Besuch beim ersten Berghilfe-Projekt

Dieses Jahr feiert die Schweizer Berghilfe ihr 80-jähriges Bestehen. Eine Gelegenheit für den abtretenden Präsidenten und die neue Präsidentin, dem ersten Berghilfe-Projekt einen Besuch abzustatten: der Golzern-Seilbahn zuhinterst im Maderanertal.

Werner Jauch ist ein begnadeter Geschichtenerzähler. Auch wenn das Gespräch wie heute in einer engen Seilbahnkabine stattfindet, zieht er die Zuhörerinnen und Zuhörer rasch in seinen Bann. Er erklärt gerade, warum früher die Leute hier in Golzern, zuhinterst im Urner Maderanertal, im Winter alle die gleiche Kopfbedeckung trugen – eine Zipfelmütze, bei der der Zipfel an einer exakt so langen Kordel befestigt war, dass man ihn in den Mund nehmen konnte.

Werner selbst hat als Kind erlebt, warum das wo wichtig ist. Eines Morgens hatte ihn die Mutter zum Schneeschaufeln rausgeschickt, als er plötzlich ein ohrenbetäubendes Donnern hörte: eine Lawine. Zeit, um ins Haus zu rennen, blieb keine, also tat er das, was ihm die Eltern jahrelang eingebläut hatten: Er kauerte sich an eine Schneewand und nahm den Zipfel seiner Mütze in den Mund. Die Staublawine ging knapp neben ihm nieder, und kurz darauf sass er etwas verstört, aber unversehrt in der Stube am warmen Holzofen. Bis er wieder etwas hören konnte, dauerte es allerdings nochmals eine gute halbe Stunde. Erst dann war der wie Zement verhärtete Schneestaub aufgetaut, der seine Ohren verstopft hatte. «Wenn ich meinen Mund nicht mit dem Zipfel verschlossen hätte, wäre der auch gefüllt worden und ich wäre erstickt», sagt Werner.

Das passierte um 1950 herum. Damals war das Leben im Weiler Golzern zwar immer noch stark von der Natur und ihren Gefahren geprägt, aber schon viel einfacher als noch zehn Jahre zuvor. Hauptgrund für die Steigerung der Lebensqualität war die neue Seilbahn, die Golzern auch heute noch mit Bristen verbindet. «Auch wir gingen als Jugendliche noch viel zu Fuss, aber wir konnten wenigstens im Tal unten eine Lehre machen. Das wäre vor der Bahn undenkbar gewesen», sagt Werner.

Ein Augenschein vor Ort

Die ersten Planungssitzungen für die Seilbahn fanden schon im Jahr 1934 in privaten Küchen und Stuben in Golzern statt, aber Geldmangel und der zweite Weltkrieg machten diesen Bemühungen den Garaus. Erst als 1943 die Schweizer Berghilfe gegründet wurde, bekam das Projekt wieder Schwung. In den alten Sitzungsprotokollen ist nachzulesen, dass der damalige «Lebensmittelverein Zürich» extra eine Sammlung für die Seilbahn Golzern durchführte. Offenbar erfolgreich, denn bereits 1944 wurde mit dem Bau begonnen, und ein Jahr später war Jungfernfahrt. Die frisch gegründete Schweizer Berghilfe hatte gemäss Protokoll «einen erheblichen Kostenanteil» beigetragen.

Heute, 80 Jahre später, sitzen Willy Gehriger, der abtretende Präsident des Stiftungsrats und seine Nachfolgerin Eva Jaisli gemeinsam in der Kabine der heutigen Seilbahn und lauschen gebannt den Erzählungen von Werner Jauch. «Es war mir in den
fünf Jahren, die ich schon im Stiftungsrat der Berghilfe Einsitz habe, immer sehr wichtig, ab und zu vor Ort zu sehen, was unsere Unterstützung in den Berggebieten bewirkt», sagt Eva Jaisli. «Jetzt, wo ich das Präsidium übernehme, noch einmal mehr.» Und wo ginge das im Geburtstagsjahr der Stiftung besser als beim ersten unterstützten Projekt?

Besonders freut die beiden Stiftungsräte, dass es so aussieht, als würde sich der Kreis bald schliessen. Die Seilbahn Golzern muss schon demnächst umfassend saniert werden. Und die Verantwortlichen der Genossenschaft haben das Treffen vor Ort genutzt, um schon mal anzukündigen, dass sie wieder ein Gesuch um Unterstützung bei der Berghilfe stellen werden. Noch-Präsident Willy Gehriger will keine Versprechen machen, sagt aber: «Es ist so sonnenklar, wie viel diese Seilbahn der Region bringt. Da kann ich mir nicht vorstellen, dass wir keine Unterstützung leisten werden, falls es nötig ist.»

Text: Max Hugelshofer

Bilder: Yannick Andrea

Erschienen im Februar 2023

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