Busse für zu schnelle Pferde

Die getäuschte Liebe, ein aufgemaltes Bussenschild und der Einzug der Kunstelite: Auf einem Dorfrundgang mit Walter Schmid erfährt man überraschende Details über Ardez.

Immer am Donnerstag und am Sonntag wartet Walter Schmid beim Hotel Schortas Alvetern auf neugierige Gäste, die mehr über Ardez erfahren möchten. Gleich zu Beginn stellt sich sich der 66-Jährige mit einem Augenzwinkern vor: „Ich bin kein typischer Engadiner. Ich lebe schon 30 Jahre hier, also viel länger als ein durchschnittlicher Bewohner oder eine durchschnittliche Bewohnerin des Engadins.“ Er spielt damit auf das inoffizielle Wappentier der Engadiner an: die Schwalbe. Denn wie einer Schwalbe gleich mussten die Engadiner jahrhundertelang in die Ferne ziehen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Geplagt vom Heimweh kamen sie jeweils im Sommer wieder für ein paar Wochen heim. So widmeten sie der Schwalbe etliche Lieder und Geschichten. Walter Schmid hingegen ist ein Zuzüger aus dem Unterland, doch er konnte vor Ort als Lehrer arbeiten. Inzwischen pensioniert, vermittelt er Besucherinnen und Besuchern mit viel Humor die Eigenheiten von Ardez.

Sgraffiti sind oft Zeugen von fremden Kulturen

Ein paar Schritte vom Shorta's Alvetern bleibt er mit der kleinen Besuchergruppe schon stehen und zeigt auf das Gebäude Gebäude oberhalb der Strasse. Viele der Ardezer Häuser sind reich mit Sgraffiti geschmückt, doch dieses hier hat nur wenige Motive. Darunter sind zwei Auerhähne und unter dem Dach viele Fabelwesen. «Sgraffiti gibt es überall im Engadin an den Häusern seit dem 15. Jahrhundert, doch diese hier sind relativ jung», erklärt Walter Schmid, «sie stammen von Steivan Liun Könz, dem Sohn von Selina Chönz.» An dem Haus auffällig ist auch das Fenster in der Mitte. «Das ist ein venezianisches Säulenfenster. Das steht architekturgeschichtlich voll quer in der Landschaft», sagt Walter Schmid. Aber das sei typisch fürs Engadin: «Engadin hatte immer schon Ein- und Auswanderung, fremde Einflüsse schlugen sich auch an den Gebäuden nieder. Was auch dazu gehörte: Sachen darzustellen, die es gar nicht gibt – also Lug und Trug. Zum Beispiel die Ecksteine an den Hauskanten.»

Sgraffiti

Sgraffiti ist eine alte Kuns, Hausfassaden zu verzieren. Im Engadin ist sie weit verbreitet. Oft sieht man auch Fabelwesen und viele Fische. Was zunächst ungewohnt erscheint, erklärt sich, wenn man Bedeutung kennt. Beispielsweise die Meerjungfrauen: Sie verkörpern eine Nymphe. Diese gilt als Beschützerin des Wassers, aber auch der Seelen von Neugeborenen, die aus dem Wasser geboren werden. Der Fisch steht ebenfalls für Wasser und dessen lebensnotwendige Bedeutung. Wie der Hase gilt der Fisch auch als Fruchtbarkeitssymbol. Der auch oft zu sehende Drache galt als Schutztier, das Dämonen abwehrt.
Katrin Brunner/Nationalmuseum

Busse für Kutschen und Pferde

Geht man nun ein paar Schritte, fällt rechts am nächsten Haus ein kleines, aufgemaltes Schild auf. „Schritt oder 2 Fr. Busse“ steht da. Wer ist da gemeint? Und warum steht das auf Deutsch und nicht Romanisch? „Das Schild meint natürlich nicht uns Fussgänger“, erklärt Walter Schmid. Es kam bei Renovationsarbeiten zum Vorschein. „Es kam bei Renovationsarbeiten zum Vorschein. „Gemalt wurde es so um 1900. Damals gab man dem Romanischen keine grosse Zukunft mehr, Offizielles schrieb man Deutsch. Man drohte Reitern und Kutschern mit dieser Busse, damit sie nicht zu schnell durchs Dorf rasten.“

Kurz nach dem Dorfplatz hält Walter Schmid bei einem eher unscheinbaren, über 400-jährigen Haus und zeigt auf die Fensterläden der Seitenfassade: „Symbolische Motive kommen auch überall vor. Diese Frau links trägt ein Herz und Hörner. Das Herz steht für die Liebe, die Hörner für Täuschung, zusammen also für eine getäuschte Liebe. Doch auch diese Malerei ist viel jünger als das Haus, auch sie stammt von Könz und kam nachträglich hinzu.“

Und dann stehen Walter Schmid vor einem aussergewöhnlich hohen, frisch geweissgten Haus. „Das hat der bekannte Künstler Not Vital gekauft, was die internationale Kunstelite auf Ardez aufmerksam gemacht hat. Bereits sind andere Häuser an Galeristen aus aller Welt verkauft. Nun gibt es Befürchtungen, dass die Häuserpreise derart in die Höhe schiessen, dass sich Einheimische gar nichts mehr leisten können.“

Jede seiner kleinen Geschichten lösen bei der kleinen Gruppe weitere Fragen und Diskussionen aus. Und so sind die eineinhalb Stunden, die der Rundgang durch das Dorf dauert, schneller um, als einem lieb ist.

Text und Bilder: Alexandra Rozkosny

Erschienen im September 2022

Dorfführung Ardez – Eine Reise durch die Zeiten

Auf einem Rundgang durch Ardez erfahren die Teilnehmenden viel Wissenswertes und Unterhaltsames über die Entwicklung des Dorfes, seine einmaligen Häuser und das Leben der Leute. Die Dorfführung findet jeweils in der Tourismus-Saison statt und kostet 12 Franken. Eine Anmeldung ist nicht nötig. Treffpunkt / Dauer: Ardez, Hotel und Restaurant Schorta’s Alvetern, Do/So, 16:30 – 18:00 Uhr
Weitere Infos
Die Schweizer Berghilfe leistet finanzielle Unterstützung, wenn das Geld nicht ausreicht, um ein zukunftsweisendes Projekt zu realisieren.