Der Sprint der Kühe

Ein Alpaufzug ist eine eindrückliche Sache. Nur gemütlich, das ist er nicht.

Der Ablauf ist klar: Um kurz nach 7 Uhr fährt das Postauto durch Mathon hindurch. Es markiert den Startschuss für den Alpaufzug. Sobald es vorbeigefahren ist, lassen alle Bauern im Dorf ihre Milchkühe aus dem Stall, und gemeinsam geht es auf die rund zweistündige Wanderung hoch auf die Alp Curtginatsch. Am Anfang würden die Kühe recht zügig gehen, aber schon bald langsamer werden, sagt Anita Clopath, die wie jedes Jahr die sechs Kühe ihrer Tochter Regina Camenisch auf die Alp begleitet. Gegen den Schluss werde es ein gemütlicher Spaziergang. Soweit die Theorie.

Im echten Leben sieht dann alles etwas anders aus. Es ist noch nicht mal 7 Uhr, das Postauto ist noch längst nicht aufgetaucht, als jemand «Es geht los!» ruft. Mit lautem Glockengebimmel kommt eine Gruppe von Kühen die Dorfstrasse hochgetrabt, einige Leute mit Stöcken in den Händen rennen hinterher. Das Muhen der Schützlinge von Anita nimmt ohrenbetäubende Ausmasse an, bis sie den Elektrozaun öffnet und ihre Kühe ebenfalls losrennen. Im zügigen Trab geht es der Strasse nach Richtung Wergenstein. Bald schon kommt das Postauto entgegen, muss anhalten und ist sofort von Kühen umzingelt. Doch sie sind schnell vorbei. Denn das angekündigte «zügige Gehen» der Kühe ist immer noch ein Trab, der die begleitenden Menschen zum Rennen zwingt. Nach ein paar Minuten kommt die Abzweigung der Bergstrasse, die in Richtung Alp hochführt. Es geht jetzt kräftig bergauf, dennoch bleibt das Tempo hoch. Erst eine knappe Stunde später, als die Kühe von der asphaltierten Strasse auf einen Kiesweg abbiegen, haben zumindest einige von ihnen an Elan eingebüsst. Das Feld zieht sich in die Länge, die Nachzüglerinnen müssen mit lautem Rufen und Herumschwingen der Hirtenstöcke angetrieben werden.

Schlange aus 100 Kühen

Dafür haben inzwischen die schnellsten Mathoner «Fussgängerkühe» die langsamsten von denen aufgeholt, die zuvor bereits mit dem Viehtransporter bis zur Abzweigung hochgefahren wurden. Also die Tiere der Bauern aus Lohn, Pazen oder Donat, für die der Fussweg zu weit wäre. Knapp 100 Milchkühe sind es nun, welche die letzten Kilometer bis zur unteren Grenze der Alp Curtginatsch hochlaufen. Der immer schmaler werdende Weg erinnert deshalb je länger je mehr an eine riesige, braune Schlange. Zum Schluss wird es richtig steil, bevor der Zaun zur Alp in Sichtweite kommt. Beim Eingang stehen Hirte Marc und sein Gehilfe Aron, die ihre Schützlinge in Empfang nehmen. Aber auch Sennin Janine und Zusenn Lorenz haben es sich nicht nehmen lassen, die gut 300 Höhenmeter von der Alphütte aus herunterzusteigen, um die Ankunft der Kühe zu beobachten.

Alpmeister Werner ist derweil mit dem «Alpbüro» beschäftigt. Er sitzt in der Wiese, einen Bundesordner auf den Knien. Jeder Bauer gibt ihm sein Meldeblatt ab, Werner kontrolliert es, legt es ab. Auf dem Zettel sind die Namen der Kühe jedes Bauern vermerkt sowie die dazugehörige Nummer, die jeder einzelnen Kuh kurz zuvor links und rechts auf der Flanke ins Fell rasiert wurde. Dann geht es ans Zusammenzählen. 93 Stück sind es. Ein paar weniger als ursprünglich gemeldet. Eine Kuh ist kurz vor Alpaufzug verstorben, eine andere ist krank und wird in ein paar Tagen nachkommen. Älpler, Bauern und Alpmeister wechseln noch ein paar Worte, essen ein Stück vom Kuchen, den Janine mit heruntergebracht hat. Dann machen sich die Bauern wieder an den Abstieg, die Älpler an den Aufstieg zur Hütte. Und die Kühe? Die haben sich inzwischen verteilt, streifen in kleinen Gruppen durch die Weide und halten Ausschau nach den saftigsten Gräsern und Kräutern. Sie sind jetzt da, wo sie seit Wochen sein wollten. Und zum ersten Mal heute wird nicht mehr gerannt, sondern gefressen und ausgeruht.

Text und Video: Max Hugelshofer

Bilder: Yannick Andrea

Erschienen im Juni 2023

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