Zum Weben ist Ruth durch ihren Mann Alfred gekommen. Und im Gadmertal gelandet ebenso. Als junge Frau verliess sie ihre Heimat in Frutigen, um etwas Neues kennenzulernen. Sie arbeitete auf einer Tankstelle in Meiringen. Geplant waren ein paar Monate. Doch bei der Arbeit lernte sie ihren Alfred kennen, und es wurden Jahrzehnte daraus. Ihr Zukünftiger war auf einem Bauernbetrieb aufgewachsen. Und weil schon damals die drei, vier «Chueli» nicht ausreichten, um eine Familie zu ernähren, arbeitete seine Mutter in Heimarbeit als Weberin. Alfred war immer fasziniert von den grossen, lärmigen Webstühlen und den kunstvollen Mustern, die seine Mutter herzauberte. Und so lernte er an langen Winterabenden das Weben. Als Ruth zum ersten Mal seinen Webstuhl sah, wollte sie auch lernen, darauf zu arbeiten. «Es hat mir sofort den Ärmel reingenommen», erinnert sie sich. Sie war so begeistert, dass ihr Mann ihr schon bald eigenhändig einen eigenen Webstuhl baute. Doch das Wissen, das Alfred ihr vermitteln konnte, reichte Ruth bald nicht mehr. Sie bildete sich weiter und machte sich vor allem auf die Suche nach ihr unbekannten klassischen Mustern. Ich hatte immer meine Kamera dabei, und wenn ich irgendwo zu Besuch war und etwas Neues entdeckte, dokumentierte ich es.» Später kamen dann noch Musterrollen aus der letzten kommerziellen Weberei im Tal dazu. «Die wollten sie wegwerfen, als das Geschäft aufgelöst wurde. Heute haben sie einen ziemlichen Wert.»
Ruth arbeitete nebst dem Bauern immer in ihrer Werkstatt, engagierte sich aber auch eine Zeit lang in der Weberei in Meiringen. Bis sie jemand vom Freilichtmuseum Ballenberg anfragte, ob sie nicht dort weben wolle. «Das habe ich sehr genossen, zu weben und meine Arbeit den Leuten von überall her zu erklären.» Ebenfalls jahrzehntelang blieb sie dem Ballenberg treu, ging auch auf Messen und Ausstellungen mit und vergrösserte dabei ihr Wissen über das Hasligewobene ständig. Heute ist sie wohl eine der Personen, die in den vergangenen Jahren am meisten zum Erhalt dieser lokalen Tradition beigetragen hat. Und dies, obschon am Anfang auch Stimmen laut wurden, die sich daran störten, dass eine «Auswärtige» sich erdreistete, das heimische Handwerk auszuüben. Heute sieht man das zum Glück etwas weniger eng. Ruth, die eine Schwester in Australien hat, regelmässig mit ihr skyped und sie auch schon öfters besucht hat, legte immer Wert darauf, zu reisen und Neues kennenzulernen. Diese Reisen verstärkten ihre Begeisterung für ihr traditionelles, lokales Handwerk nur noch: «Wenn man seinen Horizont etwas erweitert und mitbekommt, wie anderswo auf der Welt gewoben wird, kann man erst richtig einordnen, wie speziell das Hasligewobene ist.»
Text und Bilder: Max Hugelshofer
Erschienen im
Oktober 2024