Die «Fremde» wird zur Hüterin der Tradition

Es sind die speziellen, traditionellen Muster, die das Hasligewobene von anderen Webarbeiten unterscheidet. Eine der wenigen verbliebenen Weberinnen im Gadmertal ist Ruth von Weissenfluh. Seit Jahrzehnten setzt sie sich dafür ein, dass das alte Handwerk nicht in Vergessenheit gerät.

«Achtung, Kopf», warnt Ruth von Weissenfluh beim Eintreten. Die Decke in der Stube des alten Bauernhauses, das nur via eine enge Kiesstrasse erreichbar ist, dafür aber eine umso eindrücklichere Aussicht auf das Tal hinunter bietet, ist wirklich niedrig. Während die Küche nebenan sehr praktisch und gemütlich eingerichtet ist, könnte man sich hier schon fast in einem Ortsmuseum wähnen. Einem, das sich auf Textilien spezialisiert hat. Auf dem Sofa liegen Kissen mit gewobenen Überzügen, überall liegen Decken und Tücher. Alles mit traditionellen Mustern verziert, vorwiegend in den Farben Rot, dunkelblau und weiss. Und alles selbst gemacht. «An den Vorhängen für das ganze Haus habe ich den ganzen Winter 1975/76 gearbeitet, und die Tischdecke ist auch schon ein paar Jahrzehnte alt», sagt Ruth. Was hier dem Raum seinen Charakter gibt, ist alles klassisches Hasligewobenes. Aber was ist das eigentlich? Wo liegt der Unterschied zu anderen Webarbeiten? «Es sind die Muster, die definieren, ob etwas Hasligewobenes ist oder nicht», sagt Ruth. Sie sind alle bereits jahrhundertealt und wurden über Generationen weitergegeben. Verändert werden sie nie, sondern immer exakt kopiert.

«Ursprünglich entstand der typische Stil aus technischen Gründen», erklärt Ruth. Hier habe es nämlich früher nur die Rollenzug-Webstühle gegeben. Die sind etwas einfacher aufgebaut als diejenigen, die zum Beispiel im Kanton Graubünden verbreitet waren. Auf ihnen kann man weniger komplizierte Muster weben, weil mehr Handarbeit im Spiel ist, diese aber einfacher variieren und abwechseln. Gleich nebenan hat Ruth ihre Werkstatt. Der Raum wird ausgefüllt von zwei Webstühlen, an den Wänden stapeln sich Ordner mit Mustern und Kisten mit zum Verkauf bereiter Ware. Seit mehreren Jahrzehnten hat Ruth von Weissenfluh einen Stand am Meiringer Wochenmarkt. Auch mit 85 Jahren sitzt sie noch gerne und ausdauernd an einem ihrer beiden Webstühle und produziert Brotsäcke, Handtücher, Tischdecken. «Das Weben hält mich fit», sagt sie. Und es sei auch ein so wichtiger Teil ihres Lebens gewesen, dass sie nicht einfach damit aufhören könne, nur weil sie langsam alt werde».

Zum Weben ist Ruth durch ihren Mann Alfred gekommen. Und im Gadmertal gelandet ebenso. Als junge Frau verliess sie ihre Heimat in Frutigen, um etwas Neues kennenzulernen. Sie arbeitete auf einer Tankstelle in Meiringen. Geplant waren ein paar Monate. Doch bei der Arbeit lernte sie ihren Alfred kennen, und es wurden Jahrzehnte daraus. Ihr Zukünftiger war auf einem Bauernbetrieb aufgewachsen. Und weil schon damals die drei, vier «Chueli» nicht ausreichten, um eine Familie zu ernähren, arbeitete seine Mutter in Heimarbeit als Weberin. Alfred war immer fasziniert von den grossen, lärmigen Webstühlen und den kunstvollen Mustern, die seine Mutter herzauberte. Und so lernte er an langen Winterabenden das Weben. Als Ruth zum ersten Mal seinen Webstuhl sah, wollte sie auch lernen, darauf zu arbeiten. «Es hat mir sofort den Ärmel reingenommen», erinnert sie sich. Sie war so begeistert, dass ihr Mann ihr schon bald eigenhändig einen eigenen Webstuhl baute. Doch das Wissen, das Alfred ihr vermitteln konnte, reichte Ruth bald nicht mehr. Sie bildete sich weiter und machte sich vor allem auf die Suche nach ihr unbekannten klassischen Mustern. Ich hatte immer meine Kamera dabei, und wenn ich irgendwo zu Besuch war und etwas Neues entdeckte, dokumentierte ich es.» Später kamen dann noch Musterrollen aus der letzten kommerziellen Weberei im Tal dazu. «Die wollten sie wegwerfen, als das Geschäft aufgelöst wurde. Heute haben sie einen ziemlichen Wert.»

Ruth arbeitete nebst dem Bauern immer in ihrer Werkstatt, engagierte sich aber auch eine Zeit lang in der Weberei in Meiringen. Bis sie jemand vom Freilichtmuseum Ballenberg anfragte, ob sie nicht dort weben wolle. «Das habe ich sehr genossen, zu weben und meine Arbeit den Leuten von überall her zu erklären.» Ebenfalls jahrzehntelang blieb sie dem Ballenberg treu, ging auch auf Messen und Ausstellungen mit und vergrösserte dabei ihr Wissen über das Hasligewobene ständig. Heute ist sie wohl eine der Personen, die in den vergangenen Jahren am meisten zum Erhalt dieser lokalen Tradition beigetragen hat. Und dies, obschon am Anfang auch Stimmen laut wurden, die sich daran störten, dass eine «Auswärtige» sich erdreistete, das heimische Handwerk auszuüben. Heute sieht man das zum Glück etwas weniger eng. Ruth, die eine Schwester in Australien hat, regelmässig mit ihr skyped und sie auch schon öfters besucht hat, legte immer Wert darauf, zu reisen und Neues kennenzulernen. Diese Reisen verstärkten ihre Begeisterung für ihr traditionelles, lokales Handwerk nur noch: «Wenn man seinen Horizont etwas erweitert und mitbekommt, wie anderswo auf der Welt gewoben wird, kann man erst richtig einordnen, wie speziell das Hasligewobene ist.»

Text und Bilder: Max Hugelshofer

Erschienen im Oktober 2024
Berghilfe unterwegs in Gadmen
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