«Es ist halt keine Achterbahn»
Von der Werksbahn zum Touristenmagneten: Die Gelmerbahn am Grimsel ist bei Instagram und YouTube gut vertreten. Oft auf den Bildern mit dabei: Bahnbetreuer Jonas Heimann.
Von der Werksbahn zum Touristenmagneten: Die Gelmerbahn am Grimsel ist bei Instagram und YouTube gut vertreten. Oft auf den Bildern mit dabei: Bahnbetreuer Jonas Heimann.
Noch hält sich der Ansturm in Grenzen. Es ist kurz vor 8 Uhr, das Thermometer zeigt 14 Grad, es nieselt und die Sicht beträgt höchstens100 Meter. Wolken hängen an den steilen Berghängen am Grimsel und hüllen die spektakuläre Landschaft in weisse Schwaden. Die Schienen der Gelmerbahn verschwinden im Nebel. An der Talstation oberhalb der Handeck besteigt Jonas Heimann den Führerstand des offenen, 24-plätzigen «Bähnli». Die tägliche Sicherheits- und Betriebskontrolle steht an. Jonas drückt auf einen grünen Knopf, und die Standseilbahn setzt sich langsam in Gang. Es folgen verschiedene Bremstests und die Überprüfung der Kommunikation per Funkt mit der zentralen Leitstelle. Ausserdem schaut Jonas, ob keine Felsbrocken auf den Geleisen liegen und sich alle Seilrollen drehen. Derweil gewinnt der noch leere Bahnwagen an Höhe. Und steiler wird das Trassee auch. An der steilsten Stelle beträgt die Steigung 106 Prozent. Das fühlt sich nicht nur annähernd senkrecht an, das bedeutet auch Europarekord. Lange war die Gelmerbahn die steilste Standseilbahn in Europa, bis ihr die neue Stoosbahn diesen Titel abluchste. Jetzt ist sie immerhin noch die steilste offene Standseilbahn in Europa. Und dass sie offen ist, das macht den Unterschied. Man hat fast das Gefühl, draussen auf dem Gleis zu sitzen, und sieht den Schienenstrang nach unten Richtung Tal stürzen. Oben auf 1860 Meter angekommen, prüft Jonas noch die drei separaten Bremsen der Seilwinde, führt das Fahrtenbuch nach und schaut sich das Seil genau an. Dann geht es wieder bergab.
Das Wetter ist inzwischen fast noch schlechter geworden. Da wird die erste Fahrt, an einem normalen Mittwoch, wohl eher spärlich besetzt sein. Oder? «Wohl kaum, die Leute kommen immer», sagt Jonas. Viele hätten vorreserviert, aber auch die Fahrten, für die man nicht reservieren kann, seien meist voll. «Es haben auch schon Gäste vier Stunden gewartet, um mitfahren zu können.» Und tatsächlich: Als die Talstation in Sicht kommt, taucht auch eine ganze Traube in bunte Regenjacken gekleideter Menschen auf, die vor dem Eingang wartet. Kurz darauf sind 23 der 24 Sitzplätze belegt, Jonas klappt bei jeder Reihe die Sitzbügel runter und los geht die Fahrt. Sofort recken sich erste Kameras und Handys in die Luft. «Ich weiss nicht, wie viele Fotos und Filme hier an schönen Tagen entstehen, aber ich bin sicher, dass einer allein sie nicht alle an einem einzigen Tag anschauen könnte», sagt Jonas. YouTube und Instagram sind voll von Aufnahmen der pittoresken Bahn mitten in der eindrücklichen, alpinen Landschaft. Manche dieser Aufnahmen wecken aber auch falsche Erwartungen. «Ein Gast fragte mich, warum wir denn so langsam führen», erzählt Jonas. «Er hatte auf Insta ein Timelapse-Video gesehen und dachte, er nehme auf einer Art Achterbahn Platz.»
Den meisten Touristen reichen aber die zwei Meter pro Sekunde, mit denen die Gelmerbahn den Berg hoch und runter kriecht. So bleibt mehr Zeit zum Fotografieren. Bis zum Jahr 2001 war das Erlebnis dieser Fahrt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kraftwerke Oberhasli (KWO) vorbehalten. Das Stromunternehmen errichtete die Bahn 1926, um die Gelmerstaumauer bauen zu können und verwendete sie danach für Materialtransporte und, um Servicepersonal zum Damm hochfahren zu können. Um die Grimselregion touristisch attraktiver zu gestalten, öffneten die KWO dann einige ihrer ehemaligen Kraftwerkbahnen. Nebst der Gelmer- etwa auch die Triftbahn. Jonas Heimann wird heute noch dutzende Male die 448 Höhenmeter rauf und runter fahren. Er arbeitet dieses Jahr bereits den zweiten Sommer als Bahn- und Gästebetreuer. «Eigentlich war das nur als Nebenjob während des Studiums gedacht, aber es hat mir so gut gefallen, dass ich das Studieren bleiben liess und Vollzeit anfing.» Man sei viel draussen, habe Kontakt mit unterschiedlichsten Menschen. Und ja, die steile Bahn fasziniere ihn immer noch. Im Winter übernimmt Jonas, der am Hasliberg aufgewachsen ist und jetzt in Innertkirchen wohnt, andere Aufgaben bei den KWO. Es gibt immer genug zu tun. Manchmal springt er als Chauffeur ein, manchmal hilft er bei Unterhaltsarbeiten. Aber er freut sich immer auf den Sommer und damit auf seinen Arbeitsplatz mit ungeschlagener Aussicht.