Fugen streicheln am Sustenpass

An der Sustenpassstrass saniert ein Spezialteam von Hand jede Mauer, jedes Tunnel und jeden Steinpoller am Strassenrand. Meter für Meter. Denn die Berner Seite der Strasse ist denkmalgeschützt.

«‹Gehst du wieder Fugen streicheln?›, witzeln meine Arbeitskollegen jeweils im Frühling», sagt René Zobrist. Der Polier und Maurer wechselt dann seit vier Jahren jeweils bis zum Herbst in ein vierköpfiges Spezialteam. Dieses saniert bis Ende 2024 die Sustenpassstrasse auf der Berner Seite: 14 Kilometer Stützmauern, Entwässerungskanäle und Poller. Stein um Stein. In sorgfältiger Handarbeit. Eigentlich unvorstellbar.

Passstrassen gibt es in der Schweiz einige. Doch nur die Sustenpassstrasse ist denkmalgeschützt. Seit 1992 ist in einem dicken Regelwerk exakt festgelegt, wie eine Stützmauer oder ein Tunneleingang auszusehen haben, welche Farben und welches Baumaterial für Renovationen verwendet werden darf. Beton gehört nicht dazu. Und es geht um Zentimeter: «Die Fugen zwischen den Steinen der Stützmauer müssen etwa einen Zentimeter tiefer liegen als üblich», sagt René, «so schauen die Steine etwas heraus. Das ist exakt festgelegt.»

Für Touristen extra malerisch gebaut

Seit dem Mittelalter besteht über den Sustenpass eine Handelsverbindung. Das Wort «Sust» bedeutet so viel wie Lager oder Warenhaus. Die jetzige Strasse wurde 1946 eröffnet. Gebaut von während des zweiten Weltkriegs internierten Polen und Tschechen, ist sie der wichtigste Lebensnerv für das Gadmertal. Ihr Verlauf ist extra so angelegt, dass Touristen möglichst viel vom Tal sehen, und darum extra deswegen anreisen. Die Gadmer sagen darum auch, bei Ihnen gebe es nur zwei Jahreszeiten: Pass offen und Pass zu.

Beim Baustellenbesuch Anfang Juni ist der Pass noch zu. Erste Töff- und Velofahrer wagen sich an die Schneegrenze, vereinzelt kurvt ein Sportauto hoch zum Hotel Steingletscher. Ansonsten ist es ruhig – noch. Aber die Sonne heizt ein. Und das bestimmt den Tagesablauf von René und seinem Team. Je wärmer es wird, desto früher starten sie, im Hochsommer auch mal um sechs Uhr. Der Fugenmörtel darf nicht zu schnell aushärten. Denn er soll ja eben «gestreichelt» werden können. Je genauer die vier Männer arbeiten, je sorgfältiger sie den Mörtel in die Fugen drücken, ausstreichen und glätten, desto länger hält die ganze Mauer. Arbeiten René, Alex, Carlos und Thomaz gut, bleibt so eine Mauer gut und gern 100 Jahre stabil.

Erste Sustenpassstrasse

Fred Jaggi, lokaler Historiker und ehemaliger Gemeindepräsident von Gadmen, hat in alten Schriften eine Ankedote rund um den Bau der ersten Sustenpasstrasse ausfindig gemacht: «Anfang des 19. Jahrhunderts beschlossen die Kantone Bern und Uri, den Säumerweg über den Sustenpass für den Verkehr auszubauen. Als die Strassenbauer von Berner Seite beim Steingletscher ankamen, waren die Urner erst bei den Guferplatten. Zu dieser Zeit brannte Altdorf ab, und da hatten die Urner kein Geld mehr, um weiter zu ‹strassen›. So blieb vom Steingletscher bis zu den Guferplatten dann mehr ein guter Säumweg. Dieses Strassenstück bezahlten schlussendlich die Berner.
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Stein um Stein ab- und wieder aufgebaut

Doch zuerst amten die Fugenprofis als Gärtner. Starten sie an einem neuen Mauerabschnitt, entfernen sie an den Mauerkronen von Hand Wurzelstöcke, Stauden, Erdhügel. Dann spitzen sie kaputte Fugen aus. Alex Kehrli, der zweite Mann im Team, bläst mit einem Laubbläser restlichen Dreck weg und zuletzt spritzt René mit dem Kärcher noch die kleinsten Staubkörner fort. «Wir sind wie Zahnärzte», witzelt René. Ist ein Mauerteil ganz marode, weil es zum Beispiel Wasser hinterspühlt hat, dann heisst es: nummerieren. Jeder Stein bekommt eine Nummer, dann baut das Team die Mauer ab- und anschliessend wieder exakt gleich auf, Stein um Stein. «Wir brauchen hier wirklich engagierte Leute», fügt der Polier an, «nur wegen dem Geld hier zu arbeiten, das reicht nicht. Es braucht viel Sorgfalt, einen Berufsstolz; die Strasse hier ist historisch.»

Im Sommer um 15 Uhr fertig

Inzwischen brennt die Sonne auf die Strasse. Carlos benetzt noch einmal die frisch verputzte Mauerkrone mit Wasser. Dann räumen die Männer Werkzeug und Baumaterial zusammen. Für heute ist Schluss.

Text und Fotos: Alexandra Rozkosny

Erschienen im September 2024

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