Nach der Pensionierung trat er in ein Kloster ein. Weil der Orden von seinen Mitgliedern Armut verlangte, spendete Jürg Schäfer all sein Erspartes an verschiedenste Bedürftige. «Das habe ich nie bereut», sagt er. Aber das mit dem Klosterleben war dann doch nicht das Richtige. Nach ein paar Jahren trat er wieder aus, fing – bereits deutlich jenseits des AHV-Alters – bei einer Menschenrechts-Organisation zu arbeiten an und zügelte an deren Sitz nach Genf. Danach wanderte er vorübergehend in die Ukraine aus. Weil ihn einer der ehemaligen Bedürftigen, die er zuvor unterstützt hatte, quasi adoptierte und ihn dazu einlud, seinen Lebensabend bei ihm und seiner Familie zu verbringen. Nach einigen Monaten merkte Jürg Schäfer aber, dass er nicht den Rest seines Lebens Gast sein konnte und sah sich wieder nach einem Zuhause in der Schweiz um. In Sur-En in seinem geliebten Sent wurde er fündig. Hier hat er sich in einem Gästezimmer einquartiert, ohne Küche, ohne Kühlschrank, mit lediglich so vielen Besitztümern, wie er in seinem Zimmerchen ordentlich versorgen kann.
Inzwischen ist linkerhand der «God Tamangur» aufgetaucht, der als der höchstgelegene, geschlossene Arvenwald Europas gilt. Es entsteht eine Diskussion, wie man denn nun Arven von anderen Föhren unterscheidet. Da dringt der Lehrer in Jürg Schäfer durch: Kurzerhand kriecht er unter dem Elektrozaun am Wegrand durch und führt Claudia Spinatsch zu einem Baum. Die Nadeln wachsen immer in Büscheln zu fünf Stück. Also ist der Fall klar: eindeutig eine Arve.
Inzwischen sieht man in der Ferne bereits das Dach der Alp Astras in der Sonne leuchten. «Bis hierhin bin ich schonmal gewandert, weil ich mir die Alp anschauen wollte, habe dann aber umgekehrt weil ich zu spät dran war», sagt Jürg Schäfer. Während er zügig weitermarschiert, erzählt er noch ganz nebenbei, dass schon bald wieder die nächste Reise in die Ukraine anstünde. Ukraine? Mitten im Krieg? «Aber sicher, ich mache dort schon seit langem zwei Mal jährlich Ferien, bei der Familie, bei der ich damals gewohnt hatte. Das lasse ich mir von Putin nicht zunichte machen.» Ausserdem sei der Krieg in «seiner» Stadt in Transkarpatien nur insofern präsent, als dass viele Flüchtlinge betreut werden müssten und es fast täglich Fliegeralarm gebe. «Aber ich habe mich nie unsicher gefühlt. Und gerade jetzt können sie Gäste, die auch etwas Devisen bringen, gut gebrauchen.» Natürlich helfe er auch finanziell, wenn irgendwo Not am Mann sei.
Der Wille zu helfen ist tief verwurzelt in Jürg Schäfer. So konnte er sich auch nicht vorstellen, im Unterengadin zu leben, ohne hier etwas für die Allgemeinheit zu tun. «Mit Projektspenden an die Berghilfe kann ich ohne viel Aufwand Projekte hier in der Gegend unterstützen, die mir sinnvoll erscheinen.» So wie die Sanierung der Alp Astras, vor welcher die beiden Wanderer mit dem Schild «Hab Mut zur Pause» begrüsst werden. Jürg Schäfer schaut auf die Uhr. «1.55 Stunden», vermeldet er zufrieden. «Und das, obschon ich die ganze Zeit geredet habe.»
Text und Bilder: Max Hugelshofer
Erschienen im
September 2022