«Ich habe nie verstanden, warum die Bahn in Scuol aufhört»

Wenn einer eingefleischter Bündner Bahnfan ist, dann Dario Giovanoli. Der 40-jährige Scuoler will erreichen, dass beim Zug Ende mit der Endstation ist. Auch wenn er selbst davon kaum mehr profitieren wird.

«Ich habe schon als Junge nicht verstanden, warum die Bahn in Scuol aufhört. Ich wohne fünf Minuten unterhalb des Bahnhofs und habe mir die Gleisstumpen immer wieder angeschaut», sagt Dario Giovanoli, «das ist einfach nicht fertig. Und so unfertige Sachen lassen mir keine Ruhe.» Denn eigentlich sei die Sackgasse gar nie so vorgesehen gewesen, sagt er. Das sei ein Überbleibsel aus dem frühen 20. Jahrhundert, als der Bau der Anschlusslinie wegen des Ersten Weltkrieges unterbrochen und nie mehr fortgesetzt wurde.

​Neuer Schwung für alte Idee

Von Scuol soll es endlich weitergehen mit den Schienen, durch einen Tunnel bis nach Mals. Damit Bewegung in die Sache kommt, hat Dario Giovanoli zusammen mit Mitstreitern und Mitstreiterinnen vor rund einem Jahr den Verein Pro Alpenbahnkreuz Terra Raetica gegründet. Darin engagieren sich mehrere Grossräte sowie Vertreterinnen und Vertreter des Engadins, des Münstertals und aus Davos. Zusammen versuchen sie zu erreichen, dass der Bünder Kantonsrat das Projekt für einen Bahnanschluss ins Südtirol beim Bund eingibt.

«Noch 2010 kam eine Studie zum Schluss, dass eine solche Erweiterung nicht viel bringen würde. Also hat der Kanton Graubünden das Projekt wieder zurückgestuft. Dann ist das wieder für ein paar Jahre eingeschlafen. Aber wie man am Beispiel Vereina sieht, muss man so Studienergebnisse relativieren», sagt er. Seit der Eröffnung des Vereina-Tunnels habe es nämlich im Engadin ein Zugrevival gegeben und das Unterengadin sei bei Touristen und Einheimischen beliebt. Das habe der Region auch einen wirtschaftlichen Aufschwung gebracht. Jüngere würden auch wieder zurückziehen.

Junge ziehen zurück ins Engadin

Auch Dario Giovanoli hat direkt von der Tunnel-Verbindung profitiert: «Ich begann 2003 mein Studium in Fribourg. Dank dem Vereina war der Weg deutlich kürzer und ich konnte am Wochenende oft auch heimfahren. Seither bin ich ein grosser Bahnfahrer und Unterstützer.» Der neuen Verbindung verdankt er es auch, dass seine Frau überhaupt erwog, mit ihm nach Scuol zu ziehen. «Sie ist Holländerin und arbeitete jahrelang in Zürich. Sie ist auch weiterhin auf eine effiziente Verbindung angewiesen und wäre auch nicht hierhergezogen, wenn es den Tunnel nicht gäbe. Man sieht einfach: Wo es Bahn hat, geht die Wirtschaft zumindest nicht zurück. Das Bergell und das Val Müstair verlieren Einwohner. Hier ist es umgekehrt. Eine Busverbindung genügt einfach nicht.»

Nach der Anwaltsprüfung ist Dario Giovanoli viel gereist, wo immer natürlich mit dem Zug. Man nimmt es ihm ab, wenn er sagt: «Bahnfahren ist für mich etwas Schönes, du kannst einfach reinsitzen, zum Fenster rausschauen, nachdenken, arbeiten.» Nur Interrail, das habe er verpasst. Während seiner Gymi-Zeit sei das in Scuol kein Thema gewesen.

Ein Tunnel für die nächste Generation

Dario Giovanoli weiss, dass er von seinem Engagement wohl erst als Rentner profitieren wird. Denn für die Finanzierung ist der Kanton auf den Bund angewiesen. Mit einem Baubeginn ist nicht vor 2035 zu rechnen, gebaut würde mindestens zehn Jahre. Alles in allem wäre die Bahnlinie frühestens 2045 in Betrieb. «Mir wäre es egal, wenn ich nicht mehr so viel davon habe. Ich will einfach erreichen, dass man mal damit beginnt.»

Text und Fotos: Alexandra Rozkosny

Grafik: Archiv Dario Giovanoli

Erschienen im September 2022