Vom Nationalpark lernen

Engadin und Nationalpark – das gehört für die Schweiz fast wie selbstverständlich zusammen. Was viele aber nicht wissen: Die Stiftung des Schweizerischen Nationalparks pachtet das Gelände von den umliegenden Gemeinden jährlich neu. Den Rückhalt in der Bevölkerung muss sich der Park immer wieder neu erarbeiten.

«Hier dürfen wir eigentlich gar nichts», erklärt Ruedi Wiesner der Runde. 20 Besucherinnen und Besucher haben sich an diesem Herbstmorgen am Eingang des Val Trupchun eingefunden, um an einer geführten Tour im Schweizerischen Nationalpark mitzumachen. Vor ihnen steht ein quadratischer Tisch mit einem Reliefmodell des Parks. Normalerweise wäre die Stimmung nach so einer Ansage am Boden. Doch sie löst Heiterkeit aus. Genau deswegen sind ja alle gekommen, um eben jenen Ort näher zu kennen lernen, wo der Mensch nichts tut, nichts tun darf. «Hier regiert die Natur», sagt Ruedi Wiesner.

Der Schweizerische Nationalpark ist weltweit fast ein Unikum. Fast in keinem anderen Naturpark sind die Einflüsse der Menschen so stark eingeschränkt wie in diesem hier. Menschen dürfen sich nur auf eng definierten Routen bewegen, und auch das nur von Ende Mai bis Ende Oktober. Der Eintritt ist dafür gratis. Dennoch generiert der Park beachtliche Einnahmen und ist zu einem wichtigen Arbeitgeber in der Region geworden. 1914 gegründet, wird er von einer Stiftung geführt. Der Boden aber, der gehört weiterhin den umliegenden Gemeinden. Die Stiftung muss alle paar Jahre die Pachtverträge erneuern. Das bedeutet auch: Der Park kann nur bestehen bleiben, wenn die lokale Bevölkerung ihn will.

Umweltbildung für die Region

Und hier kommt unter anderen Anna Mathis ins Spiel. Während Ruedi Wiesner Führungen für Besucherinnen und Besucher aus aller Welt macht, leitet Anna Mathis vor allem Führungen und Programme Schulklassen aus dem Engadin und dem Münstertal. «Wir passen die Programme stufengerecht an», sagt sie. «So kommen im einen Jahr eher jüngere Kinder dran, im anderen dafür die etwas älteren Primarschüler, rund 40 Klassen sind es pro Jahr. «Unser Ziel ist einfach, dass die Kinder eine positive Erfahrung mit dem Nationalpark verbinden. Und wir bekommen durchs Band positive Rückmeldungen.»

Hauptberuflich arbeitet die 51-Jährige als Forstingenieurin und unterrichtet nebenbei an der Gewerbeschule. Im Sommer ging sie jahrelang z’Alp. Und sie geht gern auf die Jagd. «Ich machte meine Forstausbildung in den 1990er-Jahren, als die Thematik der Wildschäden aktuell war. Ich erlebte, dass sich Förster und Jäger noch bekämpften. Und da merkte ich: Wenn ich als Forstingenieurin vermitteln will, muss ich auch Jägerin sein.»

Zwischen verschiedenen Positionen vermitteln

Verschiedene Perspektiven einnehmen und die Zusammenhänge aufzeigen, das fasziniert Anna Mathis: «Jagd und Naturschutz, das passt sehr gut zusammen», sagt sie. «Ich sage manchmal: Im Herbst, da spielen die Jäger Luchs, Bär oder Wolf. Denn wären die Raubtiere hier, dann bräuchte es uns längst nicht mehr so stark. Aber solange sie nicht hier sind oder noch nicht in genügender Zahl, müssen wir Menschen diese Rolle übernehmen.»

«Ich sehe den Nationalpark als Bereicherung des gesamten Biotops im Engadin, nicht als etwas, das sich mit der bewohnten Region beisst. Im Park gelten einfach andere Regeln. Das gibt uns die Chance zu beobachten, was passiert, wenn wir Menschen nicht eingreifen. Gibt es gute, sinnvolle Prozesse, die auch ausserhalb des Parks anwendbar wären?» Dank dem Nationalpark merkte man zum Beispiel, dass sich der Wald von allein erneuern kann, auch wenn man das Totholz liegen lässt. Und dass so wichtige Nischen für Tiere und Pflanzen entstehen. «Nicht überall in der Schweiz kann man den Wald sich auf diese Weise selbst überlassen, zum Beispiel aus Sicherheitsgründen. Aber der Park zeigt uns, dass es wunderbar funktioniert ohne uns Menschen. Das finde ich eine grosse Bereicherung», sagt Anna Mathis.

Entdecken, was andere übersehen

Nur beobachten und gerade deswegen viel Natur erleben: Das möchte auch Ruedi Wiesner seinen Gästen ermöglichen. Und so hält er die Gruppe nach kaum einer halben Stunde Fussmarsch an einem steileren Wegstück an. Er stellt das Fernrohr hin zur gegenüberliegenden Talseite auf und ermöglicht so den Blick auf eine Seltenheit, die die Gäste allein garantiert nie entdeckt hätten: einen Adlerhorst. Diesen hätte der Adler wohl nicht da gebaut, wäre den Menschen hier alles erlaubt.

Text und Bilder: Alexandra Rozkosny

Erschienen im September 2022