An die Drehbank statt aufs Sozialamt
Wegen gesundheitlichen Problemen konnte Max Kessler nicht mehr als Gleisbauer arbeiten und ist nun selbstständiger Drechsler. Dazu gehört eine neue Drehbank.
Wegen gesundheitlichen Problemen konnte Max Kessler nicht mehr als Gleisbauer arbeiten und ist nun selbstständiger Drechsler. Dazu gehört eine neue Drehbank.
Eine Knieoperation macht aus dem begeisterten Bähnler Max Kessler den noch begeisterteren Holzkünstler Barbamax. Dazwischen liegt eine schwierige Zeit mit Enttäuschungen, der Angst davor, ein Sozialfall zu werden, aber auch mit künstlerischer Inspiration und dem Entscheid zu kämpfen.
«Das erste Mal stempeln zu gehen, war wirklich schlimm. Ich schämte mich, und von meinem langjährigen Arbeitgeber fühlte ich mich fallen gelassen wie eine heisse Kartoffel. Heute hege ich gegen niemanden mehr einen Groll, aber damals war ich sehr wütend. Wütend auf die ganze Welt. Schuld an der Misere war mein rechtes Knie. Die Schmerzen wurden mit den Jahren immer schlimmer, eine Operation unumgänglich. Als mir der Arzt vor der Operation sagte, ich müsse meinen Beruf als Gleisbauer an den Nagel hängen, fiel für mich eine Welt zusammen. Mein Leben lang bin ich ein Bähnler gewesen. Und zwar mit Herzblut. Ich machte in Winterthur bei den SBB die Lehre, wurde Rangierlokführer. Später, als bei unserem älteren Sohn Asthma diagnostiziert wurde, suchte ich mir eine Stelle in den Bergen und kam bei der Rhätischen Bahn (RhB) unter. So verschlug es uns vor - 20 Jahren ins Engadin. Heute sind wir hier sehr verwurzelt, und inzwischen verstehe ich auch recht gut Rätoromanisch. Hier habe ich auch meinen Spitznamen bekommen: Barbamax. Barba heisst zwar auf Romanisch Onkel, bei mir hat der Name aber mit meinem Bart zu tun. Den trage ich seit der Rekrutenschule. Über die Jahre hinweg ist er zu meinem Markenzeichen geworden. Zuerst zog ich mit meiner Familie nach Samedan, später dann nach S-chanf. Seit die Kinder ausgezogen sind, wohnen meine Frau und ich hier inzwischen wieder zu zweit. Und zwar in einer Wohnung mit Gleisanschluss, direkt im Bahnhofsgebäude.
Die Wohnung ist die einzige Verbindung zur Bahn, die mir geblieben ist. Ich wusste zwar, dass ich nach der Operation die Kündigung bekommen würde weh getan hat es trotzdem. Ich bewarb mich bei anderen Bahnen für verschiedenste Stellen in der ganzen Schweiz, aber ich bekam nur Absagen. Das hat an meinem Selbstwertgefühl genagt. Die Aussicht, noch länger arbeitslos zu sein, war mir unerträglich. Ich hatte eine Heidenangst davor, zum Sozialfall zu werden. Mir war klar: So kann ich nicht weiterleben. An einen konkreten Auslöser kann ich mich nicht mehr erinnern, aber irgendwann verwandelte sich meine Verzweiflung in Entschlossenheit. Ich entschied mich, dafür zu kämpfen, ohne Sozialhilfe auszukommen. Ich machte eine Standortbestimmung: Die Teilzeitstelle meiner Frau reichte im teuren Engadin bei aller Sparsamkeit nicht zum Leben. Viel fehlte allerdings nicht. Ein bescheidener Nebenerwerb würde schon reichen. Da traf es mich plötzlich wie ein Blitz: Ich mache meine zweite Leidenschaft zum Beruf.
Als Kind wollte ich immer Drechsler werden. Zu meinem 50. Geburtstag schenkte ich mir selbst einen Kurs und war von der Arbeit begeistert. Ich kaufte mir eine Drehbank und begann in meiner Freizeit, kleine Alltagsgegenstände und Deko-Objekte herzustellen. In der kleinen Werkstatt unterhalb der Wohnung vergass ich den Alltag, während ich an einem Geschenk für Freunde oder Verwandte arbeitete. Besonders viel Freude hatte ich an Holzkugeln. Später probierte ich, die Kugeln auszuhöhlen. Nach mehreren misslungenen Versuchen schaffte ich es, die Wandstärke auf wenige Millimeter zu reduzieren. Wenn man dann eine LED-Lampe in die Kugel hineinstellt, passiert etwas ganz Besonderes: Das Licht dringt durch das Holz und verbreitet einen sehr schönen, warmen Schein. Die Leute waren begeistert von den Lampen, in die ich je nach Grösse bis zu 15 Arbeitsstunden stecke. Diese Begeisterung wollte ich mir zunutze machen, meine Werke verkaufen und mit dem Erlös meine Einkommenslücke stopfen. Ich machte gleich Nägel mit Köpfen. Ein Treuhänder aus dem Dorf erstellte mir zu einem Freundschaftspreis einen Businessplan, eine Grafikerin entwarf ein Logo gegen Bezahlung in Naturalien.
Mein neues Geschäft ist gut angelaufen. Die Nachfrage ist höher als meine Produktionskapazität. Ich stelle Lampen, Kugeln und Schirmständer für Leute aus dem Engadin und aus dem Unterland her. Aber auch Auftragsarbeiten wie gerade jetzt die Pokale für ein Curlingtournier im Tal. Weil ich in der Zwischenzeit auch noch eine Teilzeitstelle als Buschauffeur hier im Engadin bekommen habe, reicht das Einkommen wieder zum Leben. Mein Ziel ist nun sogar, das Pensum als Chauffeur mittelfristig zu reduzieren und noch mehr auf die Drechslerei zu setzen. Das Problem dabei: Meine alte Drehbank ist an ihrer Leistungsgrenze angelangt. Der Motor ist zu schwach, und Objekte mit einem Durchmesser von mehr als 40 Zentimeter kann ich gar nicht einspannen. Auch die Arbeitssicherheit ist alles andere als ideal. Weil ich und meine Frau seit der Operation immer auch vom Ersparten gelebt haben, konnte ich mir die neue Drehbank bei Weitem nicht leisten. Auch mit dem Kredit, den die Bank bereit war zu gewähren, reichte es nicht. Ich bin unendlich froh, dass mir die Schweizer Berghilfe den fehlenden Betrag zur Verfügung gestellt hat. Alleine hätte ich es nicht geschafft, und an der neuen Drehbank führt kein Weg vorbei. So kann ich weiterhin Schönes schaffen und vor allem mein künftiges Berufsleben endlich in die eigenen Hände nehmen.»