Per Gondel zu kulinarischen Genüssen
Das Bergdorf Landarenca im Calancatal ist nur zu Fuss oder per Seilbahn erreichbar. Allein schon wegen der Osteria lohnt sich ein Besuch.
Das Bergdorf Landarenca im Calancatal ist nur zu Fuss oder per Seilbahn erreichbar. Allein schon wegen der Osteria lohnt sich ein Besuch.
Ein einfaches, aber feines Essen aus lokalen Zutaten vor eindrücklicher Bergkulisse? In der Osteria von Noemi Negretti und Valentino Borgonovo in Landarenca im Calancatal kein Problem. Sofern man keine Angst vor Seilbahnen hat.
«Gondel im Calancatal abgestürzt – ‹Ich rettete mir mit einem Sprung das Leben›». Die Blick-Schlagzeile lässt an Dramatik nichts zu wünschen übrig. Die Geschichte darunter auch nicht. Zitiert wird Valentino Borgonovo, Schreiner aus Italien, der im abgelegenen Bergdorf Landarenca im Bündner Calancatal regelmässig seine Freundin besucht. Mit der Seilbahn, da schliesslich keine Strasse nach Landarenca hinaufführt. Er will ins Tal runter, kommt aber nicht weit. Schon nach wenigen Minuten gibt es ein Krachen, einen Ruck, und plötzlich geht es abwärts. Der Trägerarm der Kabine ist gebrochen. Zwar ist die Gondel noch am Zugseil befestigt, doch dieses ist zu schwach, Der Absturz lässt sich nicht vermeiden. Geistesgegenwärtig reisst Valentino die Tür der Gondel auf und stürzt nach draussen. Wie durch ein Wunder holt er sich bei der Landung in der steilen Wiese keinen Kratzer. «Wenn ich in der Gondel geblieben wäre, hätte ich es nicht überlebt.»
Knapp zwei Jahre später steht der Held der Blick-Geschichte am Holzherd und kocht Polenta. Vergessen hat er den Vorfall nicht. Direkt danach konnte er nachts nicht schlafen, hatte Albträume. Doch er bestieg trotz zittriger Knie die allererste Gondel, die nach der Reparatur und Sanierung der Bahn wieder fuhr. «Man kann nicht hier oben leben und Angst vor dem Seilbahnfahren haben», sagt er. Inzwischen ist Landarenca seine Heimat geworden. Der Schreiner wohnt und arbeitet zum grössten Teil hier, erledigt ab und zu noch einige Arbeiten in seiner alten Heimat bei Milano – und führt seit vergangenem Herbst zusammen mit seiner Freundin Noemi Negretti die Osteria von Landarenca. Es gab im Bergdorf, das unter der Woche knapp 20, am Wochenende und in den Ferien gut 60 Einwohner hat, keine Beiz mehr. Etwas, das Noemi schon lange ändern wollte.
Die 52-Jährige, die an verschiedenen Orten im Calancatal und im Misox als Lehrerin arbeitet, ist in Landarenca aufgewachsen und hat einen Grossteil ihres Lebens hier oben verbracht. «Ich muss etwas dazu beitragen, damit das Dorf nicht ausstirbt», sagte sie sich. Also kaufte sie kurzentschlossen das seit Jahrzehnten leerstehende Gebäude der alten Osteria, um ihm neues Leben einzuhauchen. Damit halste sie sich und ihrem Partner Valentino eine unvorstellbare Menge Arbeit auf. Denn das Gebäude war in einem miserablen Zustand. Über Jahrzehnte hatte es durchs Dach geregnet, die Balken waren Morsch, am Boden stand das Wasser. Nur die alte Gaststube blieb von der Feuchtigkeit verschont. Ein Glück, so musste dort nicht allzu viel gemacht werden, und man fühlt sich in dem kleinen Raum heute in die Vergangenheit zurückversetzt. Der Rest des Hauses musste jedoch fast komplett saniert werden. Als Schreiner konnte Valentino einen Grossteil der Arbeiten selbst erledigen, aber halt nicht alles.
Die Handwerkerrechnungen, das Baumaterial und die teuren Helikopterflüge, die nötig waren um schwere Materialien zur Baustelle zu transportieren, rissen ein grösseres Loch in die Sparkonten von Noemi und Valentino als gedacht. Das Geld wurde knapp, der Bau war noch nicht fertig. Die Banken waren nicht bereit, die Hypothek zu erhöhen, und die Zukunft des Projekts stand auf der Kippe. Bis Noemi im Internet auf der Suche nach Geldgebern auf die Schweizer Berghilfe stiess. Sie stellte ein Gesuch, und bald schon war der ehrenamtliche Experte Peter Stahel vor Ort. «Er wollte alles ganz genau wissen. Mit meiner chaotischen Buchhaltung war er ganz und gar nicht zufrieden», erinnert sich Noemi. Sie sei vom ganzen Papierkram überfordert gewesen und habe den Überblick über die Finanzen verloren. «Ich musste auf einer ordentlichen Buchhaltung bestehen», erinnert sich Peter Stahel. Unmissverständlich stellte er klar: «Ohne Ordnung in den Finanzen kann ich es nicht verantworten, Spendengelder zu sprechen.» Erst habe sie dies als ungehörige Einmischung empfunden, erinnert sich Noemi. Doch rückblickend sei sie sogar froh darum. «Es zwang uns, professionelle Hilfe zu holen.» Heute unterstützt ein Treuhänder die frischgebackenen Wirte bei der Buchhaltung.
Beim Betrieb des Restaurants brauchen sie keine Unterstützung. «Es läuft schon super», sagt Noemi. Die Osteria hat sich als Treffpunkt im Dorf etabliert, und an den Wochenenden kommen viele Gäste von ausserhalb. «Besonders stolz sind wir darauf, dass wir inzwischen einige Stammgäste aus Nachbardörfern und sogar aus dem Misox haben», so Valentino. Zu Stammgästen machen die beiden Gastgeber ihre Besucher durch eine einfache, feine Küche und viel Herzlichkeit. «Wir haben beide nie eine Ausbildung im Gastgewerbe absolviert. Wir machen einfach alles so, wie wir es als Gäste selbst gerne hätten», sagt Noemi. Dazu gehört, dass es zum Apéro ungefragt etwas Kleines zum Knabbern gibt, dass alle Zutaten möglichst aus der Nähe stammen und dass das Essen immer frisch zubereitet wird. Eine Karte gibt es nicht, auf den Tisch kommt, was grad da ist. Wer sichergehen will, dass er ein Fleischgericht bekommt, tut gut daran, vorher kurz anzurufen und sich anzumelden. Aber auch nur schon ein Teller selbstgemachte Gnocchi mit Salbeibutter schmeckt hier oben in Noemi und Valentinos Osteria einfach doppelt so gut wie unten im Tal.
Was sich bei diesem Besuch kaum vermeiden lässt: Eine Fahrt mit der Seilbahn. Wenn man Valentinos Geschichte kennt, kann es einem schon etwas flau im Magen werden, wenn der Nordföhn kräftig bläst, die Gondel hin und her schaukelt und ein kleines, rotes Licht anzeigt, dass die Bahn jetzt aus Sicherheitsgründen im Kriechmodus fährt. Doch sogar bei diesen miserablen Wetterbedingungen ist die Angst absolut unbegründet. Die Statistiken sagen: In der Schweiz sind Seilbahnen eines der sichersten Fortbewegungsmittel. Unfälle sind extrem selten, Todesopfer gibt es praktisch nie. Ganz im Gegensatz etwa zum Strassenverkehr.