Hier zeigt der Winter noch Zähne

Bei Familie Höllrigl, zuhinterst im Aversertal, kann man im Stroh übernachten.

Fast zuhinterst im abgelegen Aversertal, auf 1920 Meter über Meer, ist die Heimat von Familie Höllrigl. Im Winter ist es eisig kalt. Temperaturen von minus 25 Grad sind keine Seltenheit – und Stromausfälle können auch mal mehr als einen Tag andauern.

Viel abgelegener als im Weiler Pürt im Bündner Aversertal kann man in der Schweiz nicht wohnen. Bis man aus dem Tal heraus ist, sitzt man eine halbe Stunde im Auto – und ist dann erst in Andeer angekommen, auch nicht gerade eine Weltstadt. Und trotzdem möchten Simon und Sandra Höllrigl nirgends anders zu Hause sein. «Unten im Tal ist es eng und dunkel, aber hier oben ist alles offen, und wir haben viel Sonnenschein», sagt Sandra. Sie stammt aus Davos und ist vor Jahren als Lehrerin ins Aversertal gekommen. Hier hat sie ihren Simon kennengelernt und ist geblieben. Inzwischen haben die beiden zwei kleine Töchter, die vierjährige Tessa und die einjährige Melina. Höllrigls betreiben Berglandwirtschaft. Gemeinsam mit Simons Bruder Toni haben sie eine Betriebsgemeinschaft. Mit ihren behornten Kühen produzieren sie Bio-Weidebeef, welches sie direkt vermarkten. Daneben ziehen sie für Bauern aus dem Tal Kälber auf. Im Sommer wird auf der nahen Gemeinschaftsalp Alpkäse hergestellt, im Winter bekommen die Kälber den grössten Teil der Milch. Aus dem Rest stellt Sandra Quark, Butter, Ziger und ab und zu Weichkäse her. Ursprünglich für den Eigenbedarf, aber immer mehr auch zum Verkauf an Feriengäste und Tagesausflügler.

Künftig wollen Höllrigls diesen Direktverkauf deutlich professioneller gestalten. Im neuen Stall ist ein Hoflädeli untergebracht, in dem sie alle ihre Waren, neben Milchprodukten und Frischfleisch auch Trockenfleisch und Würste, anbieten können. Ebenfalls im neuen Stall integriert ist ein Bereich für Schlafen im Stroh, aber von der komfortableren Sorte. Die Strohlager sind in einem wohnlichen, beheizten Zimmer ausgelegt, gleich daneben stehen ein Aufenthaltsraum mit einer kleinen Küche und ein Bad zur Verfügung. Platz haben bis zu neun Personen. Als mögliche Gäste sieht Sandra im Winter Skitourengänger, die auf das beliebte Grosshorn wollen, und im Sommer Familien. Sie ist zuversichtlich, mit diesem agrotouristischen Angebot ein Bedürfnis abzudecken: «Zur Hochsaison ist hier alles ausgebucht, und ein Angebot mit Schlafen im Stroh gab es bisher noch nicht.»

Das Projekt in Kürze

  • Bergbauernfamilie
  • Neubau Stall
  • Pürt/GR

Chancen für Nebenverdienst

Der neue Stall eröffnet Familie Höllrigl also mehrere Chancen, wichtige Nebenverdienste zu erwirtschaften. Aber in erster Linie ist er natürlich für das Vieh gedacht. Bisher waren die Milchkühe im Stall von Bruder Toni untergebracht, das Jungvieh und die Galtkühe in weit verstreuten kleinen und engen Ställen. Im neuen Laufstall haben es die Tiere viel besser. Es ist hell, sie haben viel Platz. Mindestens so sehr wie das Vieh profitieren die Bauern. Im neuen Stall kann viel effizienter gearbeitet werden, nur schon weil jetzt alles an einem Ort ist. Ausserdem können Simon und Toni nun auch alles Heu und Silofutter am gleichen Ort einlagern. Dank einer modernen Belüftungsanlage fängt das Heu nun auch nicht mehr an zu faulen, wenn es beim Einbringen nicht komplett trocken war.

«Der neue Stall ist für uns nicht einfach nur angenehm. Ohne ihn hätten wir gar nicht mehr weitermachen können», sagt Simon. Bis die Kühe endlich einziehen konnten, mussten Höllrigls allerdings manche Klippe umschiffen. Erste Pläne mussten sie verwerfen, weil der zuerst ausgewählte Bauplatz während des Bewilligungsverfahrens als lawinengefährdet eingestuft wurde. Dann, es lagen schon alle Bewilligungen vor und die Bauarbeiten hatten begonnen, mussten wegen Unstimmigkeiten zwischen der kantonalen und der nationalen Heimatschutzbehörden die Pläne für das Dach nochmals neu gemacht werden. Zu einem so späten Zeitpunkt kam das teuer. Dabei hatte der Neubau sowieso schon die Grenzen des Familienbudgets gesprengt, obschon Höllrigls alle ihre Ersparnisse aufgebraucht und sich bis an die Belastungsgrenze verschuldet hatten. «Wenn es die Schweizer Berghilfe nicht gäbe, dann würde heute kein Stall hier stehen. Und wir könnten auch nicht mehr hier leben und arbeiten», so Simon. «Für diese Hilfe sind wir unendlich dankbar.»

Mit dem neuen Stall aber hat der Betrieb eine Zukunft. Auf fast 2000 Metern Höhe Landwirtschaft zu betreiben, bringt zwar viele Erschwernisse mit sich, mit diesen kommen die Averser aber seit Jahrhunderten klar. Häuser und Ställe sind so gebaut, dass sie auch mit grossen Schneemassen fertig werden. Denn wenn der Wind aus Süden kommt, dann versinkt das obere Aversertal unter der weissen Pracht. Wenn der Wind aber aus nördlicher Richtung bläst, dann bringt er die Kälte. «Es ist keine Seltenheit, wenn während mehrerer Wochen das Thermometer jede Nacht unter minus 25 Grad fällt», so Simon. Da muss genügend Brennholz parat sein. Auf eine Elektroheizung verlässt sich niemand hier oben. Stromausfälle sind vor allem beim Wintereinbruch und im Frühling normal. Dann lässt nasser und schwerer Schnee in Kombination mit durchweichten Böden Bäume auf die Stromleitungen krachen. Die Stromausfälle dauern manchmal nur ein paar Stunden, manchmal aber auch bis zu 48 Stunden. Gut, steht im neuen Stall auch ein Notstromaggregat.

7447.ch

Text: Max Hugelshofer

Bilder: Yannick Andrea

Erschienen im März 2015
Die Schweizer Berghilfe leistet finanzielle Unterstützung, wenn das Geld nicht ausreicht, um ein zukunftsweisendes Projekt zu realisieren.