Im Pyjama Bären beim Gemüseschmaus beobachten

Wer frisch aus den Federn schlüpft, ist meist noch nicht bereit für eine Begegnung mit Bären. Doch im «Zoo et Piscine Les Marécottes» fällt einem das leicht: Vom Zimmerbalkon lassen sich die Tiere aus sicherer Distanz jederzeit beobachten.

Der Zug hält am einzigen Perron von La Médettaz, einem kleinen Weiler nach Marécottes oberhalb von Martigny im Unterwallis. Die Häuser sind blumengeschmückt, aber keine Menschenseele ist zu sehen. Ein paar Vogelstimmen erklingen, über dem Asphalt der Dorfstrasse flirrt die sommerlich erhitzte Luft. Hier in der Nähe soll sich ein Zoo befinden? Und ein 70 Meter langer, zwischen Felsen gelegener Naturpool? Unvorstellbar. Es ist eng in diesem Tal, und den meisten Platz nehmen Birken, Lärchen und Ahornbäume ein. Läuft man zwei Minuten weiter auf der Strasse, folgt dann die grosse Überraschung: Kaum zu sehen und eingebettet in die bewaldeten Granithügel, gibt es den Zoo tatsächlich. Und er hat mit über 21 europäischen Säugetieren wie Steinböcken, Hirschen, Wölfen oder Bären eine grosse Vielfalt an einheimischen Tierarten.

Geht man beim Eingang geradeaus, leuchtet einem ein türkisblaues, langgezogenes Schwimmbecken entgegen. Sein Wasser wird maschinell gereinigt, doch das Becken selbst ist wie ein klitzekleiner Stausee in einem Granit-Tälchen angelegt. Und ja – von den Seitenfelsen darf man von fast überall hineinspringen. «Das Vergnügen geniessen jährlich rund 8000 Badegäste», sagt Florian Piasenta. Er ist seit zehn Jahren Besitzer und Geschäftsführer der Anlage und Zoodirektor zugleich. Hinter ihm, am Beckenrand, tankt gerade eine kleine Familie aus Martigny mit ihrem zweijährigen Sohn noch etwas Septembersonne. «Wir sind diesen Sommer schon mehrmals hier gewesen», sagt die Mutter. «Es ist einfach ein wunderbarer, ruhiger Ort. Am liebsten besuchen wir zuerst die Tiere und dann geniessen wir ein Bad.»

Das Projekt in Kürze

  • Hotel, Restaurant und Zoo
  • Gebäude mit Hotelzimmern
  • Les Marécottes/VS

Hotelzimmer mit spezieller Aussicht

Der Zoo hat seine Wurzeln in den 1950er-Jahren. Seit 1987 gibt es das Schwimmbecken. Übernachten konnte man aber bislang nicht hier oben. Das hat sich erst im Sommer 2024 geändert. Ein noch frisch duftender Holzbau steht direkt am Rand des Bärengeheges. Von jedem Balkon sieht man auf die grossen Tiere hinunter. Ein feines Netz aus Metalldrähten, über die gesamte Balkonöffnung gespannt, schafft trotz Nähe die nötige Distanz. Dem Meister Petz kann man so gefahrlos bei seinem morgendlichen Gemüseschmaus zugucken. Wenn man will, gleich im Pyjama.

Das neue Angebot kommt sehr gut an. «Den Sommer hindurch waren die 17 Zimmer ständig ausgebucht», sagt Florian Piasenta. Nun hofft er auf einen ebenso erfolgreichen Winter. Denn gleich auf der anderen Talseite liegt das Skigebiet Les Marécottes. «An guten Tagen kommen an die 1500 Skifahrer, das bringt enorm viel Verkehr», erklärt der 40-Jährige. «DAs Ziel der Gemeinde ist, dass mehr Leute mit dem Zug kommen oder gleich vor Ort übernachten. Aber dazu fehlten bislang einfach genügend Unterkünfte.» Auch um die Tiere zu beobachten sei der Winter eigentlich geeigneter. Denn wenn alles Laub unten ist, sehe man die rund 120 Tiere am besten. «Ihretwegen besuchen uns an die 150 000 Menschen jedes Jahr. Unsere Tiere sind Dreh- und Angelpunkt der Anlage. Fünf Tierpfleger kümmern sich allein um sie.»

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Platz für verborgene Talente

Einer der Pfleger ist Emanuel Claviot. Begleitet man ihn beim morgendlichen Fütterungsrundgang, fällt auf, wie ruhig er trotz der vielen Arbeit mit den Wildtieren umgeht und wie sie sich ihm vertrauensvoll nähern. «Emanuel hat ein ausserordentliches Gespür für die Tiere und er ist enorm zuverlässig», sagt Florian Piasenta. Dass der Pfleger hier arbeitet, ist nicht selbstverständlich. Bis vor zehn Jahren war der heute 45-Jährige arbeitsunfähig und lebte von der IV. Während eines Praktikums im Zoo zeigte sich rasch sein schlummerndes Talent im Umgang mit Tieren. Seither hat «Zoo et piscine Les Marécottes» einen treuen Mitarbeiter mehr. Von den 27 ständig angestellten Servicefachleuten, Köchinnen und Pflegern sind die meisten aus der Region und über viele Jahre angestellt. Mit 30 Dienstjahren ist der Pizzaiolo des Restaurants am längsten dabei. Das ist für einen Gastrobetrieb aussergewöhnlich. Aber nicht für Florian Piasenta: «Hier in Les Marécottes geht es vor allem um Leidenschaft und Beharrlichkeit. Und darum, etwas zusammen mit den Menschen, die hier leben, auf die Beine zu stellen.»

Text: Alexandra Rozkosny

Fotos: Yannick Andrea

Erschienen im Januar 2025
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