Nur Schwarz-Weiss sehen, dafür in allen Schattierungen hören

Bei Guggisberg steht ein besonderer Bauernhof. Die Pferde und Hunde dort oben können Menschen in schwierigen Lebensumständen begleiten. Dies dank Tiertrainerin Bettina Suter. Sie hatte schon früh einen besonderen Draht zu allen Vierbeinern.

Es ist neblig in dem verschneiten Guggisberg, nur die dunkelsten Umrisse sind erkennbar. Bettina Suter geht es immer so. «Ich sehe nur Schemen in Schwarz-Weiss – mit dem linken Auge, am unteren Rand. Bettina ist fast vollständig blind und leitet zusammen mit Roland Kräuchi souverän das Tier-Therapiezentrum Compaterra im Bernischen Voralpengebiet. Sie bildet Tiere aus, die Menschen in schwierigen Lebensumständen begleiten oder unterstützen können.

Schon als junge Frau war Bettina ausgebildete Pferdetrainerin und leidenschaftliche Reiterin. In der Ausbildung fiel ihr auf, dass sie die Tiere besser spürte als andere. Und sie war unternehmungslustig, wollte auf Reisen gehen und noch einen neuen Beruf lernen. Doch dann, mit 28 Jahren, machte ihr ein seltener Hirntumor einen Strich durch die Lebensrechnung. Nach mehreren Operationen ist der Tumor unter Kontrolle, aber sie ist auf einem Ohr taub, ohne Geschmackssinn und fast ganz blind. Davon unterkriegen lassen wollte sie sich nicht.

Das Projekt in Kürze

  • Hundehaus
  • Neubau
  • Guggisberg/BE

Beibringen, nicht zu fliehen

Und so begann sie, sich auf das zu konzentrieren, was sie eigentlich schon immer am besten konnte: Mit Tieren, insbesondere mit Pferden, arbeiten. «Wenn das Pferd etwas Neues lernen soll, dann zeige ich es ihm zum Beispiel langsam vor, führe es in der Bewegung. Wichtig ist nachher eine Belohnung», sagt sie, «denn wir wollen, dass die Tiere aus eigenem Antrieb für uns arbeiten». Ein Therapiepferd müsse zum Beispiel lange stillstehen können, egal, was um es herum passiert. «Für ein Fluchttier ist das eine Riesenleistung», erklärt Bettina.Dem Wallach Quebec brachte sie auch bei, beim Auskratzen der Hufe die Beine extra stark anzuwinkeln und zu heben. So muss man sich fast gar nicht mehr bücken, um seine Hufe zu putzen.

Das ermöglicht es Nicole Neuhaus, diese Arbeit selbst zu erledigen. Auch sie ist Pferdefan und reitet, seit sie denken kann. Doch sie leidet an Multipler Sklerose, welche bei ihr nicht nur die Nerven angreift, sondern auch den Rücken versteift. Bei Bettina darf sie im Rahmen der Therapie das Pferd selbst vorbereiten. Und dank Quebecs Entgegenkommen schafft sie es auch, die Hufe sauber zu bekommen. «Für mich ist das Satteln und Striegeln grossartig, und mindestens so wichtig wie das Reiten», sagt Nicole lächelnd, «so kann ich das Pferd spüren, was mir viel Energie gibt.» Das sei so an anderen Therapieplätzen nicht möglich.

Bettina verrät, dass sie jeweils an der Atmung des Pferdes höre, wie es Nicole gehe. Wenn diese einen emotionalen Taucher habe, atme das Pferd schneller. «Dann beginnt Nicole den Wallach zu striegeln. Und nach einer Weile atmen beide gleich schnell. Dann weiss ich: Nicole hat sich gefangen», sagt Bettina.

Baustelle war Hürde

Das Tiertherapiezentrum gestartet hatte Bettina mit einigen, wenigen Pferden und ihren zwei eigenen Blindenführ-und Assistenzhunden. Aus eigener Erfahrung wusste sie, dass Ausbildungsplätze für Assistenzhunde rar sind. Ein Ziel des Zentrums war deshalb bald klar: Mehr Hunde ausbilden. Während die Pferde im bestehenden Stall gut untergebracht waren, benötigten die Hunde ein spezielles Gebäude. Das konnte Compaterra unter anderem mit Unterstützung der Schweizer Berghilfe erstellen. «Die Bauzeit war wohl die grösste Herausforderung für mich», erinnert sich Bettina. Sie, die sonst praktisch selbständig auf dem Hof arbeiten kann und für das rund fünfköpfige Team sogar meistens das Mittagessen kocht, war auf viel Hilfe angewiesen. «Wegen der Baustelle änderten sich ständig die Wege auf dem Hof.» Zum Glück ist nun Ruhe eingekehrt.

Heute lässt sie sich nur manchmal von den Pferden leiten. Zum Beispiel beim Gang zum Reitplatz. Dann packt Bettina ein Büschel Mähnenhaare von Quebec und er führt seine Trainerin selbständig zum Reitplatz. Dort beginnt die eigentliche Lektion. Der Wallach dreht im Schritt gleichmässige Runden, Nicole setzt sich zuerst normal, dann rückwärts auf das Pferd und schliesslich geht sie gar auf die Knie, stützt sich auf die Arme und hebt ein Bein. Alles Übungen, die bewirken, dass ihre inneren Muskeln weiterarbeiten und der Rücken beweglich bleibt. Der Wallach bleibt vollkommen ruhig. Und auch wenn Bettina ihre Kundin und das Pferd nicht sieht, so kann sie am Atem der beiden exakt abschätzen, wie weit sie die beiden fordern kann. So weiss sie, dass nach einer guten halben Stunde Pferd und Reiterin erschöpft sind. Weil sie zwar nur Schwarz-Weiss sieht, aber in allen Schattierungen hört.

Text: Alexandra Rozkosny

Bilder: Yannick Andrea

Erschienen im Februar 2022

Die Unterstützung

Um Hunde artgerecht ausbilden zu können, benötigt man mehrere Hundeboxen und einen geschützten Auslaufbereich. Beides musste Compaterra neu bauen, was dank der Schweizer Berghilfe möglich wurde.
Die Schweizer Berghilfe leistet finanzielle Unterstützung, wenn das Geld nicht ausreicht, um ein zukunftsweisendes Projekt zu realisieren.