Mit den Kräften der Natur leben
Nach einem Hochwasser mussten die Brücken im Gasterntal ersetzt werden. So kann hier oben weiterhin Alpwirtschaft betrieben werden.
Nach einem Hochwasser mussten die Brücken im Gasterntal ersetzt werden. So kann hier oben weiterhin Alpwirtschaft betrieben werden.
Im Oktober 2011 hat ein riesiges Hochwasser das Gasterntal verunstaltet. Noch heute sind die Aufräumarbeiten dafür in Gang. Wege und Brücken müssen wieder neu erstellt werden. Keine ungefährliche Arbeit: Im Gasterntal könnte jederzeit erneut eine Steinlawine den Hang herunterkommen.
«Ich gehe nie ins Gasterntal, ohne jemandem Bescheid zu sagen», sagt Hansueli Rauber von der Bäuertgenossenschaft Gastern. «Hier kann immer etwas passieren, da will ich, dass meine Familie weiss, wo sie mich suchen müsste.» Übertreibt der Mann nicht ein bisschen? Nein. Das sieht man, wenn man mit ihm zusammen einen Augenschein nimmt im Gebirgstal, das sich von Kandersteg aus bis an den Fuss des Kanderfirns und Hockenhorns hinaufzieht. Schon die ersten Meter sind eindrücklich. Steil steigt die Kiesstrasse an. Damit sie in der engen Schlucht Platz hatte, musste die Strasse in den Fels hineingesprengt werden. Am Tag zuvor hat es geschneit, obschon erst Oktober ist, und der Weg ist vereist und rutschig. Raubers Subaru kriecht im Schritttempo den steilen Hang entlang. Weiter oben tut sich das Tal auf, es wird etwas flacher. Doch links der Strasse ragt steil ein Felshang auf, der es in sich hat. «Hier ist alles sehr instabil. Da kommt immer wieder mal etwas runter», sagt Rauber. Einer Bauequippe, die im Tal tätig war, habe kürzlich ein Felsblock so gross wie ein Kalb den Weg versperrt. «Der ist kurz zuvor runtergestürzt, der Staub hatte sich noch nicht einmal gelegt.»
Schilder warnen Besucher davor, hier anzuhalten. Den Einheimischen braucht man dies nicht zu sagen. Rauber: «Schon mein Vater hat mich gelehrt, hier zügig zu laufen und immer mit einem Auge den Hang im Blick zu behalten.» An dieser Stelle verschütten im Winter auch regelmässig Lawinen den Weg. Mal sind sie relativ klein, mal so gross, dass Schneereste bis im August liegen bleiben. Wer in diesem Tal lebt und arbeitet, und das sind den Sommer über immerhin gegen 20 Personen, der hat gelernt, sich mit den Kräften der Natur zu arrangieren. Doch im Herbst vor eineinhalb Jahren wurden diese Kräfte plötzlich stärker als je zuvor.
Es war der 9. Oktober 2011, ein Sonntag. Zuvor hatte es geschneit, dann kam eine Warmfront und brachte rekordmässige Mengen von Regen. Zusammen mit dem Schmelzwasser verwandelte der Regen das kleine Bächlein Kander in einen reissenden Fluss, der das ganze Tal überschwemmte und eine unvorstellbare Zerstörung anrichtete. Heute sieht das Gasterntal ganz anders aus als vor dem Unwetter. An gewissen Orten liegt das Geröll 15 Meter hoch. Der Bachlauf ist komplett neu, Alpweiden sind weggespült oder von Schutt zugedeckt worden. In Mitleidenschaft gezogen wurden auch die Strassen, und vor allem die Brücken im Tal. Von den neun Brücken wurden fünf komplett zerstört.
Die Aufräum- und Neubauarbeiten haben den ganzen Sommer über gedauert. Heute, im Oktober 2012, sind Bauarbeiter fieberhaft daran, die letzte der neuen Brücken noch fertigzustellen, bevor der Winter endgültig kommt und das Tal bis im Frühling unzugänglich macht. 1,5 Millionen Franken hat es gekostet, um die Wege und Brücken wiederherzustellen, das wertvolle Weideland bleibt für immer verloren. Die Bäuert, in der alle Bauern, die hier Land besitzen, organisiert sind, und die für den Unterhalt des Tals zuständig ist, besass nur einen Bruchteil dieser Summe. Beiträge von Bund und Kanton haben einen wesentlichen Teil der Kosten gedeckt, aber ein grosser Fehlbetrag blieb trotzdem. Viele Mitglieder der Bäuert wären nicht in der Lage gewesen, zusätzliche Beiträge an die Sanierungsarbeiten zu bezahlen. Vor allem jetzt nicht, wo sie wegen der Folgen des Unwetters auf einen Teil ihrer Einnahmen aus der Alpwirtschaft verzichten müssen. «Ohne die Berghilfe hätten wir ein ernsthaftes Problem gehabt», so Rauber.
Dank der Unterstützung der Schweizer Berghilfe aber kann im wilden Gasterntal weiterhin Alpwirtschaft betrieben werden. Und für weitere Unwetter ist man jetzt auch besser gerüstet. Alle neuen Brücken wurden stabiler gebaut als bisher, es kann deutlich mehr Wasser darunter hindurchfliessen. Eigentlich sollte die Bäuert Gastern damit nun für die nächsten Jahre Ruhe haben. Eigentlich. Denn alle Beteiligten wissen: Hier im Gasterntal kann immer etwas passieren.