Neues Leben für verlassene Alpen
Die Wasserversorgung der Alpen ob Dongio im Val Blenio musste dringend erneuert werden.
Die Wasserversorgung der Alpen ob Dongio im Val Blenio musste dringend erneuert werden.
Lavill, Doisgia, Primasté und Stabbio sie tragen klingende Namen, die Alpen ob Dongio im Val Blenio auf der Südseite des Lukmaniers. Ihre Zukunft sah aber lange Zeit düster aus. Die initiative Bürgergemeinde von Dongio will das ändern. Der Grundstein für neues Leben auf den Alpen ist mit einer neuen Wasserversorgung gelegt.
Fabrizio Conceprio zupft ein Büschel Gras aus und schüttelt den Kopf. Dem Präsidenten des Patriziato also der Bürgergemeinde von Dongio gefällt nicht, was er sieht. Es ist kein nahrhaftes Gras, sondern zähes Unkraut, das sich auf den Weiden der Alp Doisgia breitgemacht hat. Kühe würden es nicht fressen wenn es hier oben noch Kühe gäbe. Denn diese Zeiten sind längst vorbei. Heute werden die Weiden nur noch ab und zu von Schafen und Ziegen genutzt. So werden die Wiesen nie richtig abgefressen, und das Unkraut kann sich weiter vermehren. Ein paar hundert Höhenmeter tiefer, bei der Alp Primasté, ist die Vergandung sogar noch weiter fortgeschritten. Dort wandert Conceprio durch dichten, kniehohen Farn. Wenn nichts unternommen wird, wächst hier in ein paar Jahren bereits Wald. Vor dreissig Jahren sah es ganz anders aus: Damals wurden jeden Sommer Kühe und Rinder gesömmert an den steilen Hängen am Osthang des Val Blenio, unterhalb des Monte Simano. Die Älpler produzierten, mehrere Stunden Fussmarsch von nächsten Dorf entfernt, sogar Käse. In einigen der Alphütten sieht man heute noch Reste der Käsereieinrichtungen. Dass die Zeit des Käsens auf so abgelegenen Alpen endgültig vorbei ist, das ist auch Fabrizio Conceprio klar. Der Präsident des Patriziato arbeitet als Forstingenieur. Er ist Realist und hat nichts übrig für unnötige Nostalgie. Dennoch sieht er längerfristig eine Zukunft für «seine» Alpen. Er hat grosse Pläne: In ein paar Jahren sollen hier Mutterkühe gesömmert werden. Und Schottische Hochlandrinder, die weniger wählerisch sind als die einheimischen Kühe und so ziemlich alles fressen, was ihnen vor die raue Zunge kommt. So würden die Weiden wieder gepflegt, die Alpen erhalten und die Biodiversität gefördert. «Ich weiss, das ist eine riesige Herausforderung. Weil wir aus Kostengründen Schritt für Schritt gehen müssen, wird es Jahre dauern», sagt Conceprio. «Aber es ist machbar.»
Der erste Schritt dazu hat das Patriziato von Dongio bereits getan. Die Wasserversorgung des ganzen Gebiets wurde erneuert. Sie war in einem sehr schlechten Zustand. Die Stahlrohre waren teils durchgerostet, und die Quellfassungen lagen zu nahe an einem Bergbach und waren deshalb sehr anfällig für Verschmutzung. Für die neue Wasserversorgung haben Bauarbeiter zwei neue Quellfassungen und zwei Reservoirs gebaut sowie mehr als einen Kilometer Leitungen verlegt. Was im Flachland eine einfache Sache gewesen wäre, gestaltete sich wegen des sehr steilen Geländes langwierig und vor allem teuer. Einen Einblick in die Komplexität der Bauarbeiten erhält man, wenn man den Wasserleitungen zu Fuss folgt. Zuerst von der oberen Fassung bei der auf 2000 Meter über Meer gelegenen Alp Lavill hinunter nach Doisgia und später von der zweiten Quelle bei Primasté nach Stabbio, das auf 1100 Meter über Meer liegt. Weil es in diesem Gebiet keine Strassen und auch keine Transportseilbahnen gibt, musste alles Material mit dem Helikopter hochgeflogen werden. Auch den Bagger, der für das Ausheben eines Grabens im felsigen Untergrund nötig war. Weil er am Stück zu schwer für den grossen Transporthelikopter gewesen wäre, mussten ihn die Arbeiter unten im Tal in zwei Teile zerlegen und oben auf der Alp wieder zusammensetzen. Die Leitungen, der Beton und die Armaturen kamen ebenfalls per Heli. Die Bauarbeiter lebten während Wochen in jeweils einer der Alphütten, die im Moment ansonsten nur ab und zu vom Schafhirten und von Wanderern genutzt werden.
Die Wasserversorgung ist der erste wichtige Schritt für die Zukunft der Alpen ob Dongio. Weitere Projekte werden folgen. So ist eine Seilbahn zur untersten Alp Stabbio geplant, die Verbindungswege zwischen den einzelnen Alpen müssten ausgebessert werden, und auch an den Alphütten gibt es noch viel zu tun. Am Engagement, diese Projekte durchzuziehen, mangelt es nicht beim Patriziato. Aber am nötigen Geld. Die Bürgergemeinde selbst besitzt kaum Vermögen, und die Pachteinnahmen von anderen Alpen reichen gerade mal knapp aus, um die bestehende Infrastruktur zu unterhalten. Vor der Verwirklichung jedes einzelnen Projekts muss sich Fabrizio Conceprio also auf Geldsuche machen. Bei der Wasserversorgung übernahm der Kanton Tessin einen schönen Anteil. Gönner des Patriziato steuerten ebenfalls etwas bei. Doch es blieb immer noch ein Fehlbetrag. Erst als die Schweizer Berghilfe die entscheidende Unterstützung zusicherte, konnte das Projekt starten. «Ohne Berghilfe gäbe es hier keine neue Wasserversorgung», sagt Fabrizio Conceprio. Und damit auch keine Zukunft für die vier Alpen. So aber stehen die Chancen gut, dass die Verwilderung gestoppt werden kann und Leben auf die verlassenen Alpen zurückkehrt.