Ohne Wasser stirbt die Alp
Im Winter 2013 beschädigte eine Lawine das Regenwasserreservoir auf der Alpage du Dorbon. Die Zukunft der Alp stand auf der Kippe.
Im Winter 2013 beschädigte eine Lawine das Regenwasserreservoir auf der Alpage du Dorbon. Die Zukunft der Alp stand auf der Kippe.
Die Alpage de Dorbon im Unterwallis hat eine lange und bewegte Vergangenheit. Dank der Schweizer Berghilfe hat sie auch eine Zukunft.
Dieser Wurzelstock liegt hier auf dem Weg, seit ich mich erinnern kann», sagt Dionys Fumeaux. «Und dort, unter diesem riesigen Felsen, haben mein Bruder und ich als Kinder mal übernachtet, als es Ende August zu schneien angefangen hat und wir die Kühe auf die niedrig gelegenen Weiden treiben und sie dort bewachen mussten.» Der pensionierte Lehrer kennt jedes Fleckchen auf der Alpage de Dorbon und dem Weg dorthin. Er ist in den Bergen oberhalb von Sion aufgewachsen und hat in seiner Kindheit jeden Sommer auf der Alpage de Dorbon verbracht. Seit den 1980-Jahren engagiert er sich in der Genossenschaft, der die Alp gehört. Und weil er derjenige ist, der die Alp am besten kennt, nimmt er den gut zweistündigen Aufstieg zur Alp vom Lac de Derborence aus auch heute noch häufig unter die Füsse. Dionys weiss genau, wo welche Kräuter wachsen, welche Gegenden man bei einem Gewitter meiden sollte, in welchen Couloirs im Winter die meisten Lawinen niedergehen und wo die Quellfassungen vergraben sind. Dionys hat auch die bewegte Vergangenheit der Alp hautnah miterlebt: Anfangs, in der Blütezeit der Alp, wurde noch in fünf Hütten gekäst, über ein Dutzend Angestellte verbrachten den Sommer hier oben und der Aufstieg dauerte dreimal so lange, weil die Strasse zum Lac de Derborence noch nicht gebaut war. Darauf folgte ein langsamer Niedergang. Die Anzahl der gesömmerten Kühe nahm ab, irgendwann wurden nur noch Galtvieh und Rinder nach Dorbon getrieben – gemolken und gekäst wurde nicht mehr.
In den 1990er-Jahren dann entdeckte ein exzentrischer und gut betuchter Mann aus der Region die Alp für sich. Er hatte tausend Ideen zur Verbesserung der Infrastruktur: Sanierung der Hütten, sanitäre Anlagen, moderne Küchen mit aus-geklügelten Gasanlagen für den Herd, Kühlschrank, Boiler und Beleuchtung, Ausbauten am Weg, Brücken. Doch der Mann war besser darin, Projekte anzureissen, als darin, sie auch zu verwirklichen. So wurde kaum eine der Bauten je fertiggestellt. Nach einigen Jahren ging es dem Mann gesundheitlich schlechter. Von seinen Kindern teilte keines die Begeisterung des Vaters für die Alp, und der Geldstrom versiegte. Die halbfertigen Brücken überlebten keinen Winter. Und in den nie ans Wassernetz angeschlossenen Badezimmern sammelt sich seither Staub und Mäusedreck.
Doch die Genossenschaft gab nicht auf. Freiwillige wie Dionys hielten das Nötigste in Schuss, sorgten dafür, dass die Alp weiterhin genutzt wurde und dass das «gîte», eine bei Wanderern und Bergsteigern beliebte Unterkunft mit einfachem Restaurationsbetrieb, auch weiterhin geöffnet blieb. Es gab Versuche, die obersten, auf über 2000 Meter gelegenen Wiesen mit Schafen zu beweiden. Diesen Plänen machte aber der Wolf den Garaus, der sich bei den unbewachten Schafherden nicht zweimal bitten liess.
Seit einigen Jahren funktioniert die Alp wieder. Zwar auf deutlich bescheidenerem Niveau als zu Zeiten des Gönners, aber immerhin so, dass die Genossenschaft keine Verluste mehr schreibt. Ein Bauer aus der Region hat Dorbon gepachtet und sömmert jeweils rund 100 Ehringerkühe, Rinder und Kälber. Die Betreuung des «gîte» läuft separat, und auch hier fanden sich immer gute Betreiber. Alles bestens also?
Nicht ganz, denn im Winter 2013 beschädigte eine Lawine das Regenwasserreservoir, das oberhalb der höchstgelegenen Hütte in den Fels gebaut war. Kein Reservoir bedeutet kein Wasser für die Tiere auf den höher gelegenen Weiden, denn Quellen gibt es nur weiter unten. Die Zukunft der Alp war plötzlich doch wieder gefährdet, denn Geld für die Sanierung war kaum vorhanden. Die Schweizer Berghilfe sprang ein. So konnte das Reservoir mit viel Eigenleistung der Genossenschafter wieder aufgebaut werden. Sogar noch ein bisschen besser als zuvor: Eine wartungsärmere Wasserfassung sorgt dafür, dass nun bei Gewittern weniger Geröll und Steine ins Reservoir fallen, die mühsam herausgeschaufelt werden müssen. Diese strenge Arbeit ist ebenfalls eine Jugenderinne-rung von Dionys. Aber eine, auf deren Wiederholung er gerne verzichtet.