Das «Digi-Tal»

Im Valposchiavo tut sich was. Viele Kleinbetriebe rüsten digital auf. Nicht ganz unschuldig an dem Boom sind die Schweizer Berghilfe und der Coach Ruggero Crameri.

«Ich finde es so cool, was seit meinem letzten Besuch schon wieder alles passiert ist», freut sich Ruggero Crameri. Der Heimwehpuschlaver mit eigener Coaching-Firma begleitet immer wieder kleine Firmen, Behörden und auch Schulen in seinem Heimattal bei Fragen zur Digitalisierung. Und das mit Herzblut: «Gerade in so abgelegenen Gegenden bietet die Digitalisierung extrem viele Chancen.» Heute steht ein Treffen mit allen Lehrpersonen der Schule von Brusio an. Die sollen «enabled» werden. «Enabeln», also befähigen, ist eines der Lieblingswörter von Ruggero, der sonst so gar nichts für Business-Slang übrig hat und so ungekünstelt ist, dass er oft schon etwas hemdsärmlig rüberkommt. «Ich bin kein Berater, der den Leuten sagt, was sie zu tun haben. Ich zeige auf, was möglich ist und gebe Denkanstösse und konkrete Hilfestellung. Der Rest passiert von alleine.


Die Digitalisierungswelle erfasste das Puschlav zeitgleich mit der ersten Coronawelle. Zwei Kurse zum Thema Digitalisierung, organisiert vom Weiterbildungsanbieter «Polo Poschiavo» und geleitet von Ruggero Crameri, war gerade über die Bühne gegangen, als der Lockdown kam. Auf einmal sei das ganze Programm infrage gestellt gewesen, erinnert sich Ruggero. Doch statt aufzugeben, wagte er die Flucht nach vorne. Die nächste «Azienda Digitale», wie der Kurs heisst, fand bereits kurz darauf komplett online statt. Und es meldeten sich immer noch mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer an. Das grosse Interesse sei sicher auch auf die finanziellen Rahmenbedingungen zurückzuführen, meint Ruggero. Denn die Schweizer Berghilfe übernimmt die Hälfte der anfallenden Kosten, wenn Personen aus dem Berggebiet an Weiterbildungen zum Thema Digitalisierung teilnehmen. Bei drei Kursen hat Polo Poschiavo sogar auch noch die andere Hälfte übernommen. Von diesem Angebot haben dutzende Puschlaverinnen und Puschlaver profitiert – und als Folge davon das Arbeiten und Zusammenleben im Tal verändert.

Weiterbildung im Digitalbereich

Die Schweizer Berghilfe unterstützt Klein- und Kleinstunternehmer im Berggebiet und übernimmt die Hälfte der Kurskosten für Weiterbildungsangebote im Digitalbereich auf der Plattform weiterbildung.swiss.

Das sagen Kursleiter und -Teilnehmende

Augenschein im Hotel Albrici in Poschiavo. Pächterin Valentina Guerranti und ihre Stellvertreterin Silvia Crosta waren vor gut einem Jahr noch blutige Anfängerinnen in allem Digitalen. Am Kurs nahmen sie aus allgemeinem Interesse teil, und weil es während des Lockdowns sowieso nichts anderes zu tun gab. Heute erhalten die Gäste des Hotels bei der Nutzung des WLANs automatisch Zugang zu einer Online-Bibliothek mit dutzenden Tageszeitungen und Illustrierten. Die Abos der gedruckten «Heftli» spart sich Crosta inzwischen. Auch alle Gästeinformationen sowie die Speisekarte sind online abrufbar. Und natürlich läuft auch die Fakturierung heute übers Internet. «Durch einfachere Abläufe und weniger administrative Arbeit gewinnen wir mehr Zeit für unsere Gäste», sagt die Gastgeberin. «Der Kurs hat sich mehr als gelohnt.»

Auch bei der Gemeindeverwaltung und in der Schule in Brusio ist man voll des Lobes für Ruggero und die Ideen, die er ermöglicht hat. «Wir waren fast alle völlige Anfänger, bevor wir uns zum ersten Mal Hilfe bei Ruggero geholt hatten», sagt Schulleiterin Maria Orsola Driessen. «Jetzt bringt uns die Digitalisierung unserer Vision, unsere Schule in diesem engen Tal zu öffnen und mit Lehrpersonen und Kindern aus anderen Tälern zusammenzuarbeiten, Schritt für Schritt näher.»

Zurück in Poschiavo, bei der Schreinerei Vecellio Legno. Hier haben in den vergangenen Monaten sowohl Mutter Cristina als auch Sohn Enzo Vecellio Kurse bei Ruggero besucht. Enzo, der demnächst das Geschäft von seinen Eltern übernehmen wird, hat bereits viele Arbeitsabläufe digitalisiert. So läuft etwa die Zeiterfassung und auch die Rapportierung der getätigten Arbeiten direkt per Tablet. Dadurch fällt für die Angestellten zeitintensive und ungeliebte administrative Arbeit weg, aber auch im Büro. «Früher hat meine Mutter jede Woche stundenlang Rapporte abgetippt», sagt Enzo. Stolz zeigt er Ruggero, was schon alles umgesetzt wurde und welche Ideen er für die Zukunft noch hat. Der «Enabler» freut sich, dass seine Denkanstösse auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Und staunt, welche unerwarteten Kreise seine Schulungen manchmal ziehen: Enzo hat nicht nur in der Schreinerei eine mittlere digitale Revolution ausgelöst, sondern auch gleich noch die Kommunikation in seinem Eishockeyclub digitalisiert.

Text, Bild und Video: Max Hugelshofer

Erschienen im November 2021