«Die Erinnerungen werden je länger, je schöner»

Julius Thalmann aus Romoos gehörte einst zu den besten Rennvelofahrern der Schweiz. Seine Karriere war intensiv, aber kurz. Heute fährt sein Sohn Roland im einzigen Schweizer Profi-Team.

«Mein altes Rennvelo? Doch, doch, das müsste noch irgendwo sein», meint Julius Thalmann und verschwindet auf dem Estrich des abgelegenen Bauernhauses oberhalb von Romoos. Dem silbern-schwarzen Cilo-Renner sieht man an, dass er schon einige Jahre auf dem Buckel hat. Und auch, dass er diese nicht in einer Vitrine verbracht hat. Der Rahmen ist staubig, der Vorderpneu platt, und das Hinterrad ist gerade nicht auffindbar. Fürs Foto findet der 65-Jährige ein anderes in der Werkstatt. «Es hat halt keinen Reifen drauf, aber das macht nichts, oder? Ich muss ja nirgendwo hinfahren damit.»

So wie dem Rennvelo ging es fast allen Erinnerungsstücken von Julius Thalmann an seine Velokarriere: Sie wurden beiseitegelegt und vergessen. Erst kürzlich, seit er pensioniert ist, nimmt sich der Bauer und Schreiner Zeit für die Vergangenheit. «Die Erinnerungen werden je länger, je schöner.» Aktuell holt Julius Fotos, Zeitungsausschnitte und Startnummern aus verstaubten Schuhkartons im Estrich und klebt sie in Fotoalben. Was man darin sieht, ist beeindruckend: Tour de France, Tour de Suisse, Giro d’Italia, Paris-Roubaix, Flandernrundfahrt.  Aber auch Rennen in Südamerika oder im damaligen Ostblock. «Durch das Velofahren habe ich die Welt gesehen», sagt Julius. Das war in den späten 1970-er Jahren keineswegs selbstverständlich für einen Bauernbub aus dem Entlebuch.

Seine Karriere begann für heutige Verhältnisse extrem spät. In der Sekundarschule nahm ein velobegeisterter Lehrer seine Klasse mit an die Strasse raus, als der GP Tell durchs Dorf führte. Der junge Julius war begeistert. Er klebte sich ein Schweizerkreuz auf sein einziges rotes T-Shirt und schwang sich damit in jeder freien Minute auf sein altes Velo. Irgendwann hielt auf so einer Fahrt ein Auto an und der Fahrer sprach ihn an. Ob er in einem Klub trainiere? Nein, hier gebe es keine Klubs. Er sei im Vorstand beim Veloclub Pfaffnau, ob er sich nicht dort anschliessen wolle?

Julius wollte, und der Fremde, der sich als Franz Fellmann herausstellte und Nachwuchsverantwortlicher beim VC Pfaffnau war, nahm den begeisterten Möchtegern-Rennfahrer unter seine Fittiche. Sekundarschüler Julius arbeitete in den Sommerferien drei Wochen auf dem Bau und sparte sich so sein erstes Rennvelo zusammen. Franz Fellmann fuhr ihn an erste kleine Rennen – Anfangs mit überschaubarem Erfolg, aber nach einiger Zeit folgten dann die ersten Platzierungen nahe der Spitze. Als Julius später eine Lehrstelle als Schreiner in Wolhusen bekam, war für Julius klar, dass er die Strecke – hin und zurück immerhin 20 Kilometer und 300 Meter Höhendifferenz – täglich mit dem Velo zurücklegte. Egal, ob bei Sonne, Regen oder Schnee. «Bei uns oben wurde die Strasse nicht geräumt, da kämpfte ich mich ab und zu auch durch 30 Zentimeter tiefen Schnee.» Meistens baute Julius auf dem Heimweg zusätzlich einen Umweg ein. Bald wurden diese Runden immer länger, und Julius kam auch im Sommer abends immer wieder mal erst im Dunkeln nach Hause. «Für mich gab es nur noch das Velofahren», erinnert er sich. «Ich war total fanatisch.» Das harte Training im steilen Gelände sorgte dafür, dass er immer besser wurde und stetig in höheren Kategorien starten durfte. Es folgen erste Rennen im Ausland, und nach der Lehre dann der erste Profivertrag. Julius Thalmann sammelte viele Siege, und sogar bei den ganz grossen Rundfahrten konnte er immer wieder mal um den Tagessieg mitfahren, obschon er eigentlich als Helfer für Stars wie Beat Bräu angestellt war.

Irgendwann war fertig

Als Profi ging es drei Jahre steil aufwärts, und dann ging nichts mehr. «Aus heutiger Sicht hatte ich viel falsch gemacht», sagt Julius. Zu hart trainiert, keine Ruhepausen, falsche Ernährung. Nach der dritten Profisaison war die Luft draussen. Vor allem körperlich, er hatte nur noch 75 Prozent der üblichen Menge von Roten Blutkörperchen und es wurde ein gravierender Eisenmangel festgestellt. Aber auch mental. «Ich kam nach Hause, stellte das Rennvelo in den Schopf nahm es mehrere Jahre lang nicht mehr hervor.» Viele Weggefährten, Betreuer und Fans hätten es nicht verstanden, dass er bereits mit 24 seine Karriere an den Nagel hing. Aber für ihn habe es gestimmt. Er half seinem Vater auf dem Betrieb, heiratete bald, hatte mit seiner Frau Therese fünf Kinder. Und war zufrieden. «Klar, vielleicht hätte ich tatsächlich mal eine Tour-de-France-Etappe gewonnen. Wer weiss. Aber ich hatte nie das Gefühl, eine Chance verpasst zu haben.»

Im Nachhinein sei er sogar froh, zu jenem Zeitpunkt ausgestiegen zu sein. Denn kurz drauf begann im Radsport die schlimmste Doping-Zeit. Epo, das Mittel zur erhöhten Produktion von roten Blutkörperchen, kam auf und wurde systematisch eingesetzt. Ob er denke, dass er da auch mitgemacht hätte? «Da muss ich nicht lange überlegen», antwortet er. «Wahrscheinlich schon.» Er sei damals so verbissen, ehrgeizig und auf den Erfolg aus gewesen, er hätte alles getan, um noch besser zu werden. «Gut, bin ich nie in diese Versuchung gekommen.»

Was Julius wichtig ist: Er habe mit einem guten Gefühl aufgehört. Eigentlich auf dem Höhepunkt seiner Karriere. So habe er dem Radsport gegenüber auch nie schlechte Gedanken gehabt. «Im Gegenteil, ich bin dankbar, dass ich das alles erleben durfte.» Deshalb habe er sich auch aufrichtig gefreut, als sein Sohn Roland begann, sich fürs Rennvelofahren zu interessieren und später in den Profi-Sport fand. Heute fährt er für das einzige Schweizer Profi-Team Tudor. Für die Teilnahme an einer Tour de France oder einem Giro hat es bis jetzt allerdings noch nicht gereicht. Diese Erfahrung hat ihm sein Vater noch zuvor.

Text und Bilder: Max Hugelshofer

Erschienen im September 2025

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