Falsche Schlüssel, echte Vorfreude
Die Alpzeit fängt nicht erst mit dem Alpaufzug an. Schon vorher gibt es viel zu tun.
Die Alpzeit fängt nicht erst mit dem Alpaufzug an. Schon vorher gibt es viel zu tun.
Die Türe will einfach nicht aufgehen. Janine Jourdan und Lorenz Mohring haben es schon mit zwei verschiedenen Schlüsseln probiert, an der Tür gerüttelt – nichts. «Ich schau nochmals in der Küche nach, vielleicht finde ich noch mehr Schlüssel», sagt Janine und verschwindet. Derweil holt sich Lorenz schon mal einen Akkuschrauber aus der Werkstatt, um zur Not die Beschläge abzuschrauben und sich auf diese Art Zutritt verschaffen zu können.
Die störrische Tür befindet sich am Bündner Schamserberg, genauer gesagt auf 2273 Meter über Meer auf der Alp Curtginatsch. Noch genauer an der Aussenwand des alten Stallgebäudes. Und dahinter verbergen sich die dringend benötigten Bretter für den Käsekeller. Wahrscheinlich. Beim Wie, Wo und Was ist noch niemand so richtig sattelfest. Denn dieser Dienstag ist der erste Tag der Vorbereitungen für den diesjährigen Alpsommer. Sennin Janine und Zusenn Lorenz sind zum ersten Mal hier oben. Ebenso Hirtengehilfe Aron Csutoros, der seine Freundin Julia und den kleinen Fabian mitgebracht hat. Nur der Hirte, Marc Buff, ist schon fast ein alter Hase. Bereits zum fünften Mal verbringt er dieses Jahr den Sommer auf Curtginatsch. Deshalb hat er heute schon viele Fragen seiner Mitälpler beantwortet. Aber gerade jetzt ist er nicht hier. Gemeinsam mit Aron schlägt er Pflöcke ein für den Zaun, der demnächst die Alpschweine davon abhalten soll, nach Lust und Laune auf der Alp herumzuwandern. Es pressiert. Denn niemand weiss, wann die Schweine, welche die Aufgabe haben, die beim Käsen anfallende Schotte zu vertilgen, angeliefert werden. Es kann übermorgen sein, aber auch schon heute Nachmittag.
Überhaupt gibt es viele Ungewissheiten. Wann sind die Bauarbeiter mit dem Auswechseln der kaputten Plättli in der Käserei fertig? Wo können die Vorräte am sichersten eingelagert werden? Wie funktioniert die Stromversorgung durch das Kleinwasserkraftwerk? Und vor allem: Was muss noch alles gemacht werden, bis Alpaufzug ist und die Kühe kommen? Es wird wahrscheinlich am Samstag so weit sein, aber auch das ist nicht in Stein gemeisselt.
Da ist ein fehlender Schlüssel schon fast eine Kleinigkeit. Und es regt sich auch niemand darüber auf oder wird nervös. Die Stimmung erinnert ein bisschen an den Beginn eines Ferienlagers. Alle freuen sich auf die bevorstehenden Monate. Auf ein Abenteuer abseits der «normalen» Welt. Abgesehen von Marc war noch niemand je auf einer Alp. Die anderen stammen alle aus Deutschland, Janine aus dem Süden, der Rest aus der Nähe von Dresden. Doch auch wenn sie keine Alperfahrung haben, Anfänger sind die drei keineswegs. Janine arbeitet normalerweise als Käserin in einem mittelgrossen Betrieb, Aron und Lorenz sind beide auf demselben grossen Landwirtschaftsbetrieb angestellt. Aron bringt es auf den Punkt: «Ich gehe davon aus, dass ich hier fast die gleiche Arbeit machen werde wie zu Hause. Bloss mit einfacheren Mitteln. Und mit viel schönerer Aussicht.» Nebst der Vorfreude schwingt in den Unterhaltungen des Alppersonals immer auch ein gewisser Respekt mit. «Jetzt, bei Sonne und 22 Grad, ist es ja wunderschön, hier oben gemeinsam zu arbeiten. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass ich das anders sehe, wenn ich nach zwei Wochen Regenwetter keine trockenen Kleider mehr habe und mich am liebsten einen Tag lang ungestört im warmen Bett verkriechen würde», sagt Janine.
Man hört immer wieder Schauergeschichten von Alpen, auf denen sich das Personal zerstreitet, überfordert ist, schon Mitte Sommer frustriert abreist und einen Scherbenhaufen hinterlässt. Dass dies auf Curtginatsch nicht passiert, ist Aufgabe von Werner Fravi. Der Alpmeister ist für die Personalsuche zuständig, fungiert aber auch als Ansprechperson bei Problemen und Fragen. Für diesen Sommer hat er ein gutes Gefühl. «Wir haben zwar viele Alp-Neulinge, aber es sind alles positive und bodenständige Leute, die ihr Handwerk verstehen», sagt er. Natürlich wäre es ihm am liebsten, wenn er Jahr für Jahr wieder das gleiche Team verpflichten könnte. Aber so einfach ist es leider selten. Alppersonal zu finden ist schwierig. Solches, das über mehrere Jahre hinweg immer wieder kommt, fast unmöglich. Denn es gibt nur wenige Arbeitgeber, die ihren Mitarbeitern mal einfach so jeden Sommer drei Monate unbezahlten Urlaub gewähren. Deshalb bleibt ein Alpsommer für viele etwas, das sie sich nur einmal im Leben gönnen.
Zurück auf der Alp. Janine und Lorenz sind mittlerweile daran, am eiskalten Brunnen vor der Hütte Käsebretter zu waschen. Käsebretter? Dann hat Janine also doch noch den richtigen Schlüssel gefunden? Nein. Es war viel simpler. Die Tür war gar nicht richtig verschlossen, sondern nur von innen verriegelt. Man musste einfach vom Stall her hochklettern und den Riegel zurückschieben. Und wer hat das gewusst? Marc natürlich, der etwas vergessen hatte und kurz vom Zäunen zur Hütte zurückgekommen ist.