Abenteuer Dorfladen

Curaglias Dorfladen ist gerettet. Dank einer Einwanderin aus Tschechien.

Anna Acton ist vor über 15 Jahren nach Curaglia gekommen. Sie hat sich in das Dorf in der oberen Sursevla verliebt und ist hier inzwischen mehr zu Hause als mancher Einheimische.

«Das erste Mal nach Curaglia bin ich im Sommer 2002 gekommen. Ich lebte damals schon mehrere Jahre in der Schweiz, hatte in verschiedenen alternativen Beizen in Basel und Bern gearbeitet und wollte mal eine Abwechslung. Mehr Abwechslung als einen Sommer auf einem Bauernbetrieb in den Bergen war kaum möglich für ein Stadtmädchen wie mich, das in Prag aufgewachsen war und danach immer nur in Städten gelebt hatte. Die Idee war, dass ich einem älteren, alleinstehenden Bauern einen Sommer lang zur Hand gehe und dann in mein Leben in Basel zurückkehre. Es kam anders. Curaglia hat mich irgendwie gefesselt. Diese Landschaft, die Ruhe, die Menschen. Also blieb ich. Der Bauer stellte mich fest an und bot mir nach ein paar Jahren sogar an, den Betrieb zu übernehmen. Ich machte die Bauern-Ausbildung – und lernte dort, dass der Hof zu klein ist, um davon leben zu können. Als dann das Angebot kam, in Tschechien für ein Ökologie-Bildungsprojekt einen Bio-Bauernhof zu leiten, kehrte ich Curaglia den Rücken. Schweren Herzens und für immer, wie ich dachte. Es kam wieder anders.»

«Das Ökologie-Projekt kam nicht richtig in die Gänge, und ich fühlte mich in Tschechien überhaupt nicht mehr zu Hause. Nach ein paar Jahren Pendeln zwischen Tschechien und der Schweiz musste ich mir eingestehen, dass ich in einer Sack-gasse gelandet war. Also zurück nach Curaglia? Nicht so einfach, denn inzwischen war ich alleinerziehende Mutter zweier kleiner Buben. Sie sind das Beste, was mir je passiert ist, aber mit ihnen wurde natürlich auch alles viel komplizierter. Damit ich auch für sie eine Auf-enthaltsbewilligung bekam, musste ich einen festen Job vorweisen können. Nur dank meiner Beziehungen fand ich schliesslich von Prag aus etwas in Disentis. Zu dritt zogen wir also wieder in die Bündner Berge.»

Das Projekt in Kürze

  • Dorfladen Curaglia
  • Gründung und Ladeneinrichtung des Dorfladens
  • Curaglia/GR

«Und dann kam das mit dem Laden. Der Dorfladen von Curaglia hat eine bewegte Geschichte. Viele Betreiberwechsel, mal war er ein Coop, mal ein Denner, mal ein Maxi. Und er lief immer schlechter, bis er schliessen musste. Ein Leben ohne Dorfladen konnten sich die Einwohner aber nicht vorstellen. Die Gemeinde bekam den Auftrag, nach einem Nachfolger zu suchen. Mehrere Leute schlugen mich vor. Das kommt natürlich nicht von ungefähr. Schliesslich habe ich schon mal völlig naiv und unbedarft einen Verkaufsstand gestartet, der inzwischen eine feste Grösse an der Lukmanierstrasse ist.»

«Angefangen hatte alles 2003 mit dem Geisskäse «meines» Bauern. Er selbst mochte ihn nicht besonders und schaffte es nicht, die von der Alp gelieferten Mengen zu verkaufen. Darum verwendete er ihn hauptsächlich dazu, Füchse anzulocken, um sie schiessen zu können. Ich konnte es kaum glauben. Ich wusste, was für Preise die Leute in den Städten für solche natürlichen Produkte zu zahlen bereit waren. Und er gab sie den Füchsen… Er war davon überzeugt, dass niemand diesen Käse kaufen will. Um ihm das Gegenteil zu beweisen, stellte ich in einer Kurve der Lukmanier-Passstrasse einen Klappstuhl und ein Schild auf – und verkaufte an einem einzigen Nachmittag fast seine gesamten Vorräte. Weitere Bauern gaben mir ihre Produkte – und schon bald war «La Curva», wie die Einheimischen den Verkaufsstand tauften, eine feste Grösse. Er existiert heute noch, eine befreundete Bauersfrau hat ihn übernommen, als ich zurück nach Tschechien ging.»

Wissen der Berghilfe half

«Darum hatten die Leute wohl das Gefühl, ich hätte mit dem Dorfladen ein gutes Händchen. Die Herausforderung reizte mich, aber ich hatte auch Respekt davor. Würde es mir gelingen, den Laden aus seiner Abwärtsspirale rauszureissen? Ohne jegliche Erfahrung im Detailhandel? Bei meiner Entscheidung hat mir die Schweizer Berghilfe sehr geholfen. Ich stellte ein Unterstützungsgesuch, und der ehrenamtliche Experte Beat Ochsé kam vorbei, um das Projekt zu prüfen. Er hat ein riesiges Wissen. Und er gab mir die Zusicherung: Das Potenzial ist vorhanden, mit viel Arbeit kann ein Neustart gelingen.»

«Also stürzte ich mich ins Abenteuer. Die ersten Monate waren schlimm. Ich sah meine Kinder wochenlang nur schlafend, weil ich jeden Tag in den Laden ging, bevor sie aufstanden und nach Hause kam, wenn sie schon wieder im Bett waren. Ich wusste, dass es streng werden würde, hatte darum auch für die ersten Wochen eine gute Freundin als Kindermädchen organisiert – aber mit so viel Arbeit hatte ich dann doch nicht gerechnet. Denn: Der Laden lief vom ersten Tag an super. Die Umgestaltung, das veränderte Sortiment und vor allem die vielen lokalen Produkte, die ich nun verkaufe – das kommt bei den Einheimischen und bei den Touristen an. Inzwischen konnte ich zwei Teilzeit-Mitarbeiterinnen anstellen, und je nachdem, wie es im Winter läuft, brauche ich nächsten Frühling noch mehr. Es ist genial, wie gut es läuft. Und das Witzige: Früher, in der Landwirtschaft, hatte ich vor allem mit den Männern zu tun. Jetzt lerne ich endlich auch die Frauen von Curaglia kennen. Ich muss nur noch rausfinden, wer zu wem gehört.»

dorfladen-medel.ch

Text: Max Hugelshofer

Bilder: Yannick Andrea

Erschienen im November 2017
Die Schweizer Berghilfe leistet finanzielle Unterstützung, wenn das Geld nicht ausreicht, um ein zukunftsweisendes Projekt zu realisieren.