Das touristische Erfolgspuzzle
Mit einem neuen Mehrzweckraum bietet Familie Berta in Braggio im Calancatal Gästezimmer an. Dadurch erhält die Bauernfamilie ein wichtiges Zusatzeinkommen.
Mit einem neuen Mehrzweckraum bietet Familie Berta in Braggio im Calancatal Gästezimmer an. Dadurch erhält die Bauernfamilie ein wichtiges Zusatzeinkommen.
Auf dem Hof von Agnese und Luciano Berta hat man das Gefühl, meilenweit von Lärm und Hektik entfernt zu sein. Dabei liegt ihr Hof in Braggio gar nicht mal so abgelegen. Bis nach Arvigo im Calancatal nimmt man von Bellinzona aus viele Kurven unter die Räder, benötigt aber für die Strecke nicht mehr als eine halbe Stunde. Dort angekommen heisst es allerdings, das Auto stehen zu lassen und auf die kleine, vollautomatische Seilbahn umzusteigen. Höhenmeter um Höhenmeter schwebt man so aus dem engen, schattigen Tal herauf und findet sich schliesslich auf einer wunderbar ruhigen Sonnenterasse wieder. Nun sind es nur noch ein paar Minuten Fussmarsch bis zum Stall der Familie Berta. Agnese und Luciano sind Bergbauern aus Leidenschaft. Zu tun gibt es viel. Die knapp zwölf Hektaren Land sind allesamt sehr steil und aufwendig zu bewirtschaften. Im Stall stehen fünf Kühe und ihre Kälber, ein gutes Dutzend Milchschafe und einige Schweine. Das Fleisch wird direkt vermarktet. Die Milch verarbeitet Agnese vor Ort in der eigenen kleinen Käserei. Der Betrieb wirft aber bei Weitem nicht genug ab, als dass Bertas alleine von der Landwirtschaft leben könnten. Ohne Nebenverdienste könnte die Familie nicht überleben. Luciano drechselt deshalb zusätzlich in seiner Werkstatt Pfeffermühlen, die Familie organisiert regelmässig Brunches, bei denen sie teilweise fast 100 Gäste aus der Region mit eigenen Produkten verköstigt.
Das wichtigste Standbein nebst der Landwirtschaft ist aber der Tourismus. Agnese Berta vor gut 30 Jahren aus dem Kanton Zürich zugezogen ist so begeistert von den Naturschönheiten rund um Braggio, dass sie felsenfest vom touristischen Potenzial der Gemeinde mit knapp 60 Einwohnern überzeugt ist. Mit ihrer Begeisterung steckte sie auch ihre Mutter an, die sich mit 85 Jahren noch dazu entschloss, ihre Wohnung in Wetzikon aufzugeben und im Bergdorf ihrer Tochter ein Häuschen zu kaufen.
In den vergangenen Jahren hat Agnese dafür gesorgt, dass vor allem den Sommer über ein steter Strom von Urlaubern nach Braggio kommt. Für Verwandte und Freunde verwaltete sie bereits seit Jahren zwei Ferienwohnungen. Die Gäste waren begeistert von der Landschaft, vom Einblick ins Bergbauernleben, von den Tieren und von den Produkten, die sie Bertas abkauften. «Den Sommer über waren wir immer sehr gut ausgebucht, die Übernachtungszahlen stiegen stetig. Aber im Winter und in der Zwischensaison standen die Wohnungen meist leer», sagt Agnese. Ihr war schnell klar: Dies würde sich nur ändern, wenn es ihr gelänge, Gruppen für Seminare oder Kurse anzuziehen. «Für Feriengäste sind nur die Wanderzeiten Sommer und Herbst interessant», weiss Agnese. Für Seminarteilnehmer sei es aber nicht so wichtig, dass die Gipfel schneefrei sind. «Und eine wunderschöne Natur bietet Braggio das ganze Jahr über.» Mit den Jahren reifte deshalb ein Plan: Weitere Übernachtungsmöglichkeiten mussten geschaffen werden, und ein Mehrzweckraum mit Küche sollte entstehen, der für Seminare, aber auch für Familienfeste oder Versammlungen genutzt werden kann. Als vor sechs Jahren Agneses Mutter im Alter von 91 Jahren starb, kam die Zeit, den Gedankenspielen Taten folgen zu lassen. Bertas richteten das Häuschen der Mutter ebenfalls als Ferienhaus ein, und aus dem Nachlass konnte Agnese ein weiteres baufälliges Haus in Braggio kaufen, sanieren und zur Ferienwohnung ausbauen. So kann sie inzwischen in den vier Gästehäusern insgesamt 22 Betten anbieten. «Damit haben wir eine Grösse erreicht, die uns auch für Gruppen interessant macht», sagt sie.
Nun fehlte nur noch der Mehrzweckraum. Mit ihm möchten Bertas das Dorf Braggio zu neuem Leben erwecken, aber auch ihren Landwirtschaftsbetrieb stärken. «Wenn ich für Kurse ein Mittagessen koche, dann verwende ich natürlich eigene Produkte. Ich hole mir also die Kundschaft auf den Hof», sagt Agnese. «Unser Erfolg basiert auf ganz vielen Puzzleteilen.» Ohne Landwirtschaft würde der Tourismus nicht funktionieren, und ohne Tourismus brächte die Landwirtschaft nicht genügend Einkommen. Der Mehrzweckraum war das letzte wichtige Teilchen zur Vollendung des Puzzles. Seit einigen Wochen ist er nun fertiggestellt. In einem neu gebauten Haus, das zwischen den vier Ferienwohnungen liegt. Doch es war lange unklar, ob er je realisiert werden könnte. Die Kosten für den Bau waren einfach zu hoch, obschon die Familie all ihr Erspartes dafür einsetzte. «Ohne die Unterstützung der Berghilfe hätten wir den Raum wohl nicht bauen können», so Agnese. «Wir sind alle sehr dankbar für die unkomplizierte und rasche Unterstützung.» Nun beginnt ein neues Zeitalter auf Bertas Hof. Agnese wird sich vermehrt um die Gäste kümmern. Ihre Arbeit im Stall und auf dem Feld übernimmt die 25-jährige Tochter Aurelia. Sie ist nach ihren Ausbildungs- und Wanderjahren seit Kurzem als Angestellte auf dem Hof ihrer Eltern tätig. Ob sie später einmal den ganzen Betrieb übernehmen möchte, weiss sie noch nicht. «Für diese Entscheidung ist es noch zu früh. Aber vorstellen könnte ich es mir gut. Denn hier bin ich zu Hause, und hier möchte ich eigentlich auch gerne bleiben», sagt sie. Dank dem Puzzle, an dem ihre Eltern immer weitergearbeitet haben, sollte diesen Wünschen zumindest aus wirtschaftlicher Sicht nichts im Wege stehen.