Den eigenen Weg gehen
Doris Martinali nimmt viel Aufwand in Kauf, um in der Deutschschweiz in die Lehre gehen zu können.
Doris Martinali nimmt viel Aufwand in Kauf, um in der Deutschschweiz in die Lehre gehen zu können.
Doris Martinali ist erst 15, weiss aber sehr genau, was sie will. Nämlich schon bald den Bergbauernbetrieb ihrer Eltern im Valle Blenio übernehmen und auf Bio umstellen. Dafür braucht sie eine möglichst gute Ausbildung. Gefunden hat sie diese in Form einer landwirtschaftlichen Lehre mit Bio-Schwerpunkt in der Deutschschweiz. Dass sie ihre Eltern und ihre Schwester nur noch einmal im Monat sieht, nimmt Doris in Kauf.
«Nein, Heimweh habe ich nicht. Aber es ist wunderschön, wieder mal für ein paar Tage daheim im Tessin zu sein. Das letzte Mal war ich vor sechs Wochen hier. Da lag noch Schnee. Inzwischen ist schon fast der Sommer da. Ich würde ja eigentlich gerne öfter nach Hause kommen, aber es lohnt sich einfach nicht. Ich sitze fünf Stunden in verschiedenen Bussen und Zügen, bis ich von meinem Lehrbetrieb in Ellikon an der Thur daheim bin. Wenn es sich einrichten lässt, arbeite ich deshalb lieber ein paar Wochen am Stück und habe danach mehrere Tage frei. So lohnt sich die Reise.
Den Platz in Ellikon, aber auch den fürs zweite Lehrjahr in Benken habe ich mir selbst organisiert. Meiner Mama war es fast ein bisschen peinlich, weil die künftigen Lehrmeister ja das Gefühl haben könnten, sie kümmere sich nicht um mich. Aber eigentlich ist sie sehr stolz darauf, dass ich so selbstständig bin. Dass ich die Lehre in der Deutschschweiz mache und nicht hier im Tessin, hat mehrere Gründe. Papa und ich möchten den Hof in den nächsten Jahren auf Bio umstellen. Darum war es mir wichtig, die Bio-Zusatzausbildung gleich in der Lehre zu machen. Im Tessin ist das nicht möglich. Da mein Vater schon 65 ist, haben wir weniger Zeit, um die Betriebsnachfolge zu regeln, als andere Familien. Also muss ich während der Lehre bereits möglichst viel lernen, viel Verschiedenes sehen. Dass Mama aus dem Kanton Zürich stammt und mit uns Kindern immer Schweizerdeutsch geredet hat, machte es überhaupt erst möglich, die Ausbildung ausserhalb des Tessins zu machen. Weil ich Hochdeutsch aber bei Weitem nicht so gut beherrschte wie Mundart, musste ich vor Lehrbeginn einige Monate kräftig büffeln.
Doch weil die Ausbildung am Strickhof im Kanton Zürich mit dem ganzen Reisen natürlich viel teurer kommt, und weil ich viel weniger zu Hause mitarbeiten kann, als wenn ich einfach hier im Tessin in die Lehre gegangen wäre, standen meine Eltern vor einem finanziellen Problem.
Weil meine Schwester Marina zurzeit die Matura macht, belasten die Ausbildungskosten das Familienbudget schon eine Weile lang. Ich weiss, dass meine Eltern alles machen, um mir meine Wunsch-Ausbildung zu ermöglichen. Aber ob es ohne die Schweizer Berghilfe gereicht hätte, weiss ich nicht. Auch jetzt stehen noch genug Herausforderungen an. Wir werden in den nächsten Jahren nicht darum herumkommen, den alten Anbindestall zu sanieren und zu vergrössern. Lange entspricht er sicher nicht mehr den Tierschutzvorschriften, besonders nicht für Bio-Produktion. Ich freue mich aber schon darauf, unseren Kühen ein besseres Daheim zu bauen.
Seit ich denken kann, war für mich klar, dass ich unseren Betrieb mal übernehmen möchte. Das wollte meine ältere Schwester allerdings auch. Und sie war ja die Grosse. Ich kann mich darum noch genau an den Tag erinnern, an dem sie mir beim Eierputzen im Keller feierlich mitgeteilt hat, dass sie es sich nun doch nicht mehr vorstellen könne, den Hof zu übernehmen, und dass ich ihn haben dürfe. Sie war damals zwölf und ich neun. Mama scherzt seither immer, dass sie mich nicht mehr Eier putzen lässt, damit ich nicht plötzlich auch die Lust verliere. Aber ihren Worten Taten folgen liess sie bisher leider noch nie. Doch ich möchte mich nicht beklagen. Ich arbeite wirklich sehr gerne auf unserem Betrieb und packe an, wenn ich zu Hause bin. Auch jetzt, wenn ich nach mehreren strengen Arbeitswochen müde nach Hause komme, verzichte ich lieber aufs Ausschlafen und helfe dafür meinem Vater beim Melken. Ich geniesse die Vielseitigkeit auf unserem Betrieb und dass man viele Arbeiten noch von Hand machen muss. In meinem Lehrbetrieb ist alles mechanisiert. Das ist zwar auch spannend, aber auf Dauer nichts für mich. Ich bin jetzt noch überzeugter davon, dass ich hier nach Largario im Bleniotal gehöre.»