«Da kam mir eine Biene so gross vor wie ein Kalb!»

Der 87-jährige Fred Jaggi ist Schreiner, Imker, ein wenig Filmstar und ehemaliger Gemeindepräsident von Gadmen. Als Chronist mit Gespür für gute Geschichten hat er ein enormes Wissen über die Schicksale des Tals zusammengetragen.

«Ich liebte es schon als Kind, mit den Tieren auf unserem Hof zu arbeiten. Darum war für mich klar, dass ich die bäuerliche Berufsprüfung machte, um später selbst einen Hof zu führen. Aber dann, nach der Ausbildung, kam es anders. Ich hatte einen schweren Unfall. Sechs Jahre lang war ich immer wieder im Spital, brauchte mehrere Operationen am Bein. Als Bergbauer konnte ich so nicht mehr arbeiten. Zwischen den Spitalaufenthalten begann ich mich als Schreiner auszubilden. Besonders das Historische am Handwerk reizte mich und darauf habe ich mich dann spezialisiert. Und ich übernahm die Bienen meines Vaters. Sie wurden meine Leidenschaft. So war ich doch noch Bauer, wenn auch mit ganz kleinen Tieren. Dazu muss man wissen: Die Bienen sind das viertwichtigste Landwirtschaftstier in der Schweiz! Bei unserem ehemaligen Haus in Gadmen steht das grosse Bienenhaus. Das war mein Reich bis vor drei Jahren. Es ist inzwischen wohl weltbekannt, weil ich ja im Dokumentarfilm «More than honey» damit prominent vorkomme.

Ich wurde angefragt, im Film mitzumachen, weil mein Bienenhaus an einem malerischen Ort steht. Und offensichtlich gefiel dem Regisseur Markus Imhoof meine Art zu kommunizieren. Imhoof wollte unbedingt auch das Thema Bienenkrankheiten in den Film reinbringen. Aber einen schweren Krankheitsbefall zum Filmen zu finden, ist eigentlich unmöglich. Weil: Wenn ein Imker einen Befall hat, muss er sofort dafür sorgen, dass alles gereinigt wird. Der kann nicht auf ein Filmteam warten. Jedenfalls kam das Team, um mich mit der Bieneninspektorin zusammen in meinem Bienenhaus zu filmen. Sie öffnet also vor laufender Kamera das erste Volk, um zu erklären, wo die Brut ist und so weiter. Als sie die dritte Wabe rausnimmt, entdeckt sie die Sauerbrut. Sauerbrut ist eine hochansteckende bakterielle Krankheit, und wenn mehr als die Hälfte der Völker befallen ist, müssen alle Bienen des Bienenhauses vergast werden. Der Regisseur hatte seinen Krankheitsfall, er war glücklich. Und ich am Boden zerstört. Es war furchtbar. Aber daraus ist dann eine spannende Zusammenarbeit entstanden. Ich war sogar dabei an der Weltpremiere des Films in Locarno zusammen mit der Bieneninspektorin. Wir bekamen spezielle Plätze ganz zuvorderst. Der Film wurde auf einer riesigen Leinwand gezeigt. Da kam mir eine Biene so gross vor wie ein Kalb, sie war riesengross!

Parallel begann ich mich immer mehr für die Geschichte unseres Tals zu interessieren. Gadmer waren bis vor rund 50, 60 Jahren fast alle arm, sie lebten von der Landwirtschaft. Mein Grossvater hatte noch erlebt, wie Menschen hier verhungerten, aber das nannte man nicht so. Das hiess «verelenden», und das passierte vor allem alleinstehenden, alten Menschen. Allgemein hielt sich damals das Mitleid der Mitmenschen in Grenzen. Alle waren viel härter zueinander. Es gab ja nur wenige, die mehr als grad das Nötigste besassen. In den Gemeindesprotokollen habe ich gelesen, dass die ganz Armen um 1880 etwa 5 Franken pro Monat erhielten, zu einer Zeit als das Brot 20 Rappen pro Laib kostete. Viele Junge verliessen das Tal. Zum Beispiel als Flösser. Sie fuhren mit dem Holz von hier oben bis hinunter nach Rotterdam. Etliche kamen nicht mehr zurück, weil sie unterwegs ein hübsches Meitschi kennenlernten oder neue Arbeit bekamen. Wir haben darum seit lange eine starke Abwanderung. Am meisten Einwohner hatte es hier um 1880 mit rund 760 Einwohnern. In meiner Amtszeit als Gemeindepräsident Mitte der 1990er-Jahre waren es noch rund 300, bei der Fusion mit Innertkirchen im Jahr 2013 nur noch knapp 230.

Die Gemeindefusion war richtig, es leben ja immer weniger Menschen und viele Alte in Gadmen. Aber unser Tal und unsere Kultur ist am Verschwinden, viele Begebenheiten, Tätigkeiten und Geschichten nehmen die Leute mit ins Grab. Es geht sehr viel verloren. Darum habe ich schon vor Jahrzehnten angefangen, Fotos, Pläne, Aufzeichnungen, aber auch viele alltägliche Gegenstände zu sammeln. Von jedem Stück meiner Sammlung kenneich die Geschichte, viele sind berührend, andere auch traurig. Wir haben zum Beispiel einen Holzofen, kaum gross genug für einen Topf. Darauf kochte eine Frau für ihre zehnköpfige Familie. Mehr hatten die nicht. Inzwischen lebe ich leider nicht mehr hier im Dorf. Besuche und Arzttermine wahrzunehmen, das wurde mit den öV einfach zu schwierig. So wohne ich nun mit meiner Frau in Brienz, in der Nähe meines Sohnes. Aber mein Herz, das gehört immer noch Gadmen.»

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Berghilfe unterwegs in Gadmen