Auszeit auf Schmugglers Spuren

Ein aussergewöhnliches Hotel liegt weit hinten im Val Sinestra: der Hof Zuort. Im ehemaligen Bauernhof, der früher auch Zollstation war, finden Gäste Ruhe pur. Pächter Not Pult kennt Zuort in- und auswendig. Schliesslich ist er bereits hier aufgewachsen.

«Ihr schliesst dann einfach ab, wenn ihr reingeht, OK?». Not Pult drückt den letzten Gästen, die auf der Veranda noch die Abendstimmung geniessen, einen riesigen, alten Schlüssel in die Hände und steigt in sein Auto. Bis nach Sent, wo er und seine Frau leben, sind es Luftlinie nur wenige Kilometer. Dennoch steht Not eine halbstündige Autofahrt bevor, bis er nach einem langen Arbeitstag endlich zu Hause ist. Erst geht es die enge und teils holprige Kiesstrasse runter nach Vnà, dann viele Kurven nach Ramosch runter und weiter bis zur Hauptstrasse im Tal, schliesslich wieder rauf nach Sent.

Ein Weg, den Not schon lange kennt. Bereits in seiner Kindheit hat er ihn oft genommen. Denn damals bewirtschafteten seine Eltern den Hof Zuort, der noch genau das war: ein Bauernhof. Einfach einer mit einer kleinen Gastwirtschaft. Noch weiter in der Vergangenheit diente Zuort sogar als Grenzposten. Offenbar wurde der Obrigkeit das Treiben der Schmuggler, die vom österreichischen Paznaun her über die Berge stiegen und durchs Val Sinestra ins Engadin herunterkamen, zu viel. Um deren Treiben Einhalt zu gebieten, wurde im strategisch gut gelegenen Hof ein Zollamt eingerichtet.

Nochmals etwas Neues probieren

«Es war sehr schön, hier aufzuwachsen», erinnert sich Not. Der Hof wurde nur im Sommer bewirtschaftet, damals hatten die Kinder noch drei Monate Sommerferien. Das hiess für Not und seine Geschwister: Viel Freiheiten, viel Natur, aber auch viel Helfen. Doch um die Arbeit hat sich Not noch nie gedrückt. Er lernte Käser, wechselte in den Detailhandel, stieg auf. Zwischenzeitlich hatte er die Verantwortung über eine ganze Reihe von Dorfläden. Dann zog es ihn über die Landesgrenze nach Österreich. In Samnaun übernahm er die Leitung der örtlichen Käserei und den dazugehörigen Läden. An seinem 60. Geburtstag sagte er sich: «Jetzt will ich nochmals etwas Neues probieren.» Als dann ein neuer Pächter für den Hof Zuort gesucht wurde, zögerte er nicht.

Not setzt in seinem Betrieb auf das Motto «Einfaches Leben auf hohem Niveau». Die Zimmer sind historisch eingerichtet. Es gibt zwar keinen Wellnessbereich, und das Bad befindet sich auf dem Gang, dafür fühlt man sich um 100 Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt. Im Restaurant gibt es lokale Spezialitäten, hergestellt aus regionalen Zutaten. «Wer Pommes Frites will, ist hier an der falschen Adresse», lacht Not. Dafür haben Capuns und verschiedenste Knödel schon manche Fans gefunden.

Not beschäftigt einen Koch und einen Allrounder, der im Service hilft, die Zimmer macht und putzt. Den ganzen Rest erledigt der Chef selbst. Vom Frühstück zubereiten am frühen Morgen über die Gästebetreuung bis zum Füttern der Hühner und der drei Schweine kurz vor Feierabend. Und zwar nicht nur im Sommer, wenn sich rund um den Hof die Natur von ihrer lieblichsten Seite zeigt, sondern auch im Winter. Dann, wenn die Sonne nur ein paar Stunden am Tag scheint, wenn der lange Zufahrtsweg bei starkem Schneefall teilweise mehrmals täglich gepflügt werden muss und manchmal doch nur mit Allradantrieb und Schneeketten passierbar ist.

Not und seine Mitarbeiter dürfen mit ihrer Sonderbewilligung per Auto zum Hof Zuort hochfahren, die Gäste hingegen kommen zu Fuss oder mit dem Bike.Deshalb ist es hier oben auch so ruhig. Vor allem am Abend, wenn die Ausflüglerinnen und Wanderer alle wieder im Tal unten sind. Dann nehmen die letzten Gäste den Schlüssel von Not entgegen und geniessen ein letztes Glas Wein, während sich die Berggipfel rundum erst rot färben und kurz darauf die ganze Landschaft ins Bläuliche wechselt. Danach gibt es zwei Optionen: Entweder, man zieht sich eine warme Jacke an, bleibt sitzen und wird einige Zeit später mit einem eindrücklichen Sternenhimmel belohnt. Oder man verzieht sich ins Zimmer, wo einem die Ruhe und die frische Luft rasch ins Reich der Träume befördern. Wer einen leichten Schlaf hat, wird allenfalls am nächsten Morgen früh vom ersten Schrei des hofeigenen Güggels geweckt – oder vom Knarren der Dielenbretter im Erdgeschoss, wenn sich Not noch fast im Halbdunkeln daran macht, das Frühstück vorzubereiten.

zuort.ch

Text und Bilder: Max Hugelshofer

Erschienen im September 2022

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