Der erste Schellenursli sagt: «Es gibt einen strengen Winter»

Not Schlegel ist 80 Jahre alt, aber wohl fitter als die meisten 50-Jährigen. Er geht seit 60 Jahren auf die Jagd, streift täglich durch die Wälder, kümmert sich um die Schafe seines Sohnes. Und manchmal erinnert er sich daran, dass er die Hauptrolle im allerersten Schellenursli-Film gespielt hat.

Not Schlegel würde den perfekten Alp-Öhi abgeben: Rauschebart, ein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht, wache Augen. Doch der 80-Jährige aus dem Weiler Bos-cha zwischen Guarda und Ardez hat nie den Grossvater vom Heidi gespielt, sondern eine andere berühmte Figur aus der Bergliteratur: den Schellenursli. Und zwar schon Jahrzehnte bevor bei uns der beliebte Film vom Bauernbub, der an Chalanda Marz nicht mit der kleinen Schelle mitlaufen will und sich auf abenteuerliche Art die grösste Glocke des Dorfes organisiert, ins Kino kam. Es war 1953, als ein Filmemacher im Auftrag von Walt Disney nach Guarda kam, um die Geschichte vom Schellenursli zu verfilmen. Aber es war kein Amerikaner, sondern der gebürtige Thurgauer Ernst A. Heiniger, der sich in Hollywood einen Namen gemacht hatte. Als perfekter Ursli wurde Not ausgesucht. «Reiner Zufall», sagt der. Doch es gibt auch eine andere Version. In mehreren Zeitungsartikeln steht zu lesen, dass Selina Chönz, die Autorin des Schellenursli, höchstpersönlich auf Not Schlegel bestanden habe. «Er ist mein Schellenursli», soll sie gesagt haben.

Der kleine Not fand jedenfalls schnell Gefallen an den Filmaufnahmen. «Das war mal eine schöne Abwechslung», sagt er verschmitzt. Einen ganzen Sommer lang wurde gedreht. Und Heiniger wurde dabei fast zu einer Art Ersatzvater für Not. «Er war ein ganz feiner Mensch, hatte viel Geduld, wurde nie laut», erinnert sich Not. Und: «Er hatte eine wunderschöne Frau.» Die hätte allen im Dorf grossen Eindruck gemacht. Sie hiess Helen Feaster und war Amerikanerin, aber das war Not nicht bewusst gewesen. «Ob jemand Englisch oder Deutsch sprach, war für mich unwichtig, ich verstand beides nicht», lacht er. Er, der heute fast perfekt Schweizerdeutsch redet, verstand bis zu seiner Pensionierung kaum Deutsch. Als Bergbauer und Holzfäller im abgelegenen Weiler Bos-cha kam er selten mit Menschen in Kontakt, die kein Romanisch sprachen. Erst nach der Pensionierung, als er anfing, für den WWF Kurse im Bau von Trockensteinmauern zu geben, kam er mit Leuten aus der ganzen Schweiz in Kontakt und lernte rasch Deutsch.

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Jeden Tag etwas lernen

Auch heute noch ist es sein Ziel, jeden Tag etwas Neues zu lernen. Meist sind das Dinge über die Natur. Fast täglich streift Not durch die Wälder und Wiesen rund um sein Zuhause und beobachtet. Tiere, Pflanzen, den Wind, die Temperaturen. «Die Natur verändert sich ständig. Sie spricht. Wer sie richtig zu deuten weiss, kann viel lernen.» Not behauptet sogar, anhand verschiedenster Anzeichen langfristig das Wetter voraussagen zu können. «Den vergangenen schneearmen Winter habe ich genau so vorausgesagt – mithilfe der Ameisen», erzählt er. Und auch für den nächsten Winter hat er ein Prognose parat: «Der wird streng werden, mit viel Schnee.» Verraten haben ihm das die Vogelbeeren. So viele wie dieses Jahr hätte es in seinem ganzen Leben nie an den Bäumen gehabt. Ein klarer Fall.

Meist liege er mit seinen Prognosen richtig, das bestätigen ihm auch Freunde und Bekannte. Sein Wissen über die Natur ist gefragt, vor allem in Jägerkreisen. «Es haben schon viele gefragt, ob sie nicht mal mit mir mitkommen dürften», sagt Not. Doch die Antwort war immer Nein. «Auf die Jagd gehe ich immer allein, sonst bekomme ich die Natur um mich herum nicht zu 100 Prozent mit.»

Not ist nicht nur ein begeisterter Jäger, sondern auch ein erfolgreicher. Auch letztes Jahr noch hat er insgesamt fünf Hirsche und Rehe geschossen. So geht das seit 60 Jahren. Nots grösste Leidenschaft ist jedoch die Steinbockjagd. Nur alle zehn Jahre wird man als Jäger dafür zugelassen. Vier Mal war er schon dabei, in zwei Jahren ist es wieder soweit. «Wenn die Gesundheit weiterhin so gut mitmacht, will ich unbedingt nochmals los», sagt Not. Fünf Mal Steinbockjagd, das hat bisher noch keiner geschafft.

Selbstverständlich kann sich Not noch an jeden einzelnen Steinbock, den er geschossen hat, genau erinnern. Wann es war, wo und welches Wetter herrschte. Andere Dinge, die ihm nicht so wichtig sind, gehen eher mal unter. Zum Beispiel die Sache mit dem Schellenursli-Film. Die haben er und seine Frau Tilly, die im Film Urslis Schwester spielte, komplett vergessen. «Der Herr Heiniger ging nach jenem Sommer wieder, und das war es dann», erinnert er sich. «Tilly und ich haben auch später nie mehr über die Dreharbeiten geredet.» Bis vor einigen Jahren. Als im Jahr 2015 der moderne Schellenursli-Film ins Kino kam, ging der Bündner Charles Pult dem Gerücht nach, dass schon einmal ein solcher Film gedreht worden sei. Er recherchierte in Amerika und konnte den Film im Archiv von Disney aufstöbern. Dieser wurde jedoch nie gezeigt und ist aus rechtlichen Gründen auch nicht einsehbar. Allerdings brachte Pult viele Fotos von den Dreharbeiten mit. «Noch erstaunter als Tilly und ich waren unsere Kinder, als sie davon erfuhren. Wir hatten wirklich nicht mehr an den Film gedacht und ihnen darum auch gar nie etwas davon erzählt.»

Text und Bilder: Max Hugelshofer

Erschienen im September 2022